Die religiöse Landschaft in Europa

14. 01. 2022
Teilen:

Europa ist der Kontinent, auf dem die Säkularisierung am weitesten fortgeschritten ist. Trotzdem wird hier inzwischen wieder über Religion gestritten. Und auch wenn die Kirchen immer mehr Mitglieder verlieren, gibt es mittlerweile viele empirische Belege dafür, dass die religiösen Einstellungen in Europa derzeit erstarken. Der Religionssoziologe Martin Riesebrodt hat diese Entwicklung folgendermaßen skizziert: „Als staatstragende Kraft hat die Religion ausgedient, aber als gesellschaftliche Kraft kommt den Religionen eine durchaus für Europa tragende Rolle zu.“

Unsichere Datenlage

Davon zeugen die vielen gegenwärtigen Debatten um die Rolle der Religion in Europa. Umso überraschender ist es, wie unsicher und schwankend die Datenlage hierzu ist. So sind verlässliche Daten zur Religionszugehörigkeit für viele europäische Länder bislang nicht verfügbar. [1] Oder aber die Religionsstatistiken kommen zu widersprechenden Ergebnissen, weil beispielsweise das eine Mal die formale Religionszugehörigkeit, ein anderes Mal die religiöse Selbsteinschätzung erhoben wurde.

So weisen die Daten der Swiss Metadatabase of Religious Affiliation in Europe (SMRE) für die Jahre 2006 bis 2015 die Anteilswerte für die objektive, formale Religionszugehörigkeit in Europa aus. [2] In der Europäischen Union (EU-28) lag der Anteil der Christen in diesem Zeitraum relativ stabil bei 66,1 Prozent. Der Anteil der Muslim:innen wird mit 3 Prozent angegeben, der Anteil der Personen ohne Religionszugehörigkeit mit 28,9 Prozent.

Religiöse Selbsteinschätzung

Anhand der religiösen Selbsteinschätzung kommt eine Eurobarometer-Umfrage [3] 2019 zu dem Ergebnis, dass der Anteil der Christ:innen in den EU-Ländern bei 64 Prozent liegt.Im Jahr 2012 hatte der Anteil noch bei 72 Prozent gelegen. Die Katholik:innen sind derzeit mit 41 Prozent der EU-Bevölkerung die größte christliche Gruppe in der EU, gefolgt von orthodoxen Christ:innen (10 Prozent), Protestant:innen (9 Prozent) und anderen christlichen Gruppen (4 Prozent). 10 der 28 EU-Länder können als dominant katholisch (mit einem Anteil von über 60 Prozent) klassifiziert werden, darunter Polen (86 Prozent), Irland (78 Prozent) und Italien (69 Prozent). Vier EU-Länder sind dominant orthodox (Zypern, Bulgarien, Rumänien, Griechenland) und zwei als dominant protestantisch (Dänemark, Finnland).

Der Anteil der Muslim:innen wird für die gesamte EU mit 2 Prozent angegeben. Frankreich und Großbritannien haben mit jeweils 5 Prozent den höchsten Anteil an Muslim:innen, dicht gefolgt von Deutschland, wo 4 Prozent der Bevölkerung sich laut der Eurobarometer-Umfrage als muslimisch bezeichnet. Die kürzlich veröffentlichte Studie Muslimisches Leben in Deutschland 2020 kommt dagegen auf einen muslimischen Anteil von 6,4 bis 6,7 Prozent an der gesamten deutschen Bevölkerung. [4] Das entspricht aktuell zwischen 5,3 und 5,6 Millionen Muslim:innen in Deutschland.

Der Anteil anderer Religionsgruppen wie Jüd:innen, Sikhs, Buddhist:innen und Hindus liegt laut der Eurobarometer-Umfrage von 2019 jeweils unter einem Prozent in der EU. Agnostiker:innen machen 17 Prozent, Atheist:innen 10 Prozent der EU-Bevölkerung aus. In Tschechien bezeichnen sich 56 Prozent als atheistisch oder agnostisch; in den Niederlanden sind es 52 Prozent, in Schweden 50 Prozent.

Die gesamteuropäische Perspektive

Fokussiert man nicht nur auf die heute 27 EU-Länder (448 Millionen Einwohner), sondern betrachtet alle europäischen Länder (839 Millionen Einwohner), ergeben sich Verschiebungen, nicht zuletzt auch mit Blick auf die Frage nach der Zugehörigkeit des Islams zu Europa.

Nach den Daten der Swiss Metadatabase of Religious Affiliation in Europe (SMRE), welche die formale Religionszugehörigkeit erhebt, dominieren zwar auch in den untersuchten 50 europäischen Ländern die Katholik:innen (28,3 Prozent), gefolgt von 22,1 Prozent orthodoxen Christ:innen. [5] Zahlenmäßig folgen dann aber schon die Muslim:innen mit einem Anteil von 13,5 Prozent (in Bosnien-Herzegowina, Albanien und Kosovo bilden Muslim:innen die Mehrheit), noch vor den Protestant:innen (8,2 Prozent). Knapp ein Viertel der Bevölkerung Gesamteuropas hat keine formale Religionszugehörigkeit (23,9 Prozent).

Neue Relevanz von Religion

Die Zahlen belegen, dass die Religion in Europa keineswegs auf dem Rückzug ist. Vielmehr verändert sich gegenwärtig die religiöse Landschaft in Europa. In die Zukunft projiziert wird sich das Christentum nach Berechnungen des Pew Research Center von 2015 zwar auch in Zukunft als die größte Religion in Gesamteuropa behaupten; jedoch wird die Zahl der Christ:innen zwischen 2015 und 2050 um rund 100 Millionen auf 454 Millionen sinken. [6] Das entspricht einem Anteil von noch 65,2 Prozent gegenüber 74,5 Prozent im Jahr 2015. Im Gegenzug wird der Anteil der Muslim:innen an der europäischen Bevölkerung steigen, so eine Studie des Pew Research Centers aus dem Jahr 2017. [7] Selbst ohne weitere Zuwanderung wird der Anteil von 4,9 Prozent auf 7,4 Prozent anwachsen. Auch die Zahl der Religionslosen wird deutlich zunehmen, und zwar von 18,8 Prozent auf 23,3 Prozent.

Hinter diesen Zahlen stehen rasante Transformationsprozesse. Zum einen entsteht zurzeit ein diverser Islam europäischer Prägung. Aber auch das Nachdenken über christliche Identität ist neu angestoßen worden, sowohl in den Kirchen als auch außerhalb. Und religionsferne Gruppen artikulieren sich immer stärker, und das keineswegs nur glaubenskritisch. So erleben alternative, popularisierte Glaubensformen derzeit eine Konjunktur. Und vieles spricht dafür, dass der Religionsbedarf nicht abnimmt, sondern mit der steigenden Komplexität und Krisenanfälligkeit der Gesellschaft eher zunimmt. Jedoch scheint sich die Form der Sinnsuche zu verändern, und religiöse Funktionen wandern aus den traditionellen Glaubensgemeinschaften mehr und mehr in andere Lebensbereiche ab.

Zum anderen beschleunigt die Migration die Pluralisierung der religiösen Landschaft in Europa. Und das betrifft keineswegs nur die Zuwanderung von Angehörigen verschiedener islamischer Glaubensrichtungen, die den Islam in Europa so divers macht. Viele außereuropäische Migrant:innen in die EU sind Christ:innen. In jeder europäischen Großstadt finden sich heute Diaspora-Gemeinden aller christlichen Konfessionen. Nicht zuletzt tragen Migrant:innen auch zur Ausbreitung evangelikaler und pfingstkirchlicher Gemeinschaften in Europa bei.

Das Thema der Religion hat somit eine neue gesellschaftliche und politische Relevanz gewonnen und macht es notwendig, die Beziehung zwischen Religion und Gesellschaft neu zu verhandeln. Das verlangt aber nach präziseren Kenntnissen der religiösen Landschaft Europas, als sie bislang zur Verfügung stehen.

 

Dieser Beitrag erschien erstmals im November 2017 auf der Website „Europeinfos – Die EU aus christlicher Sicht“, Ausgabe 209, und wurde für den Blog aktualisiert.

Fußnoten

Fußnoten
1 Vgl. Swiss Metadatabase of Religious Affiliation in Europe, www.smre-data.ch/en/ (zuletzt abgerufen: 08.11.2021).
2 Liedhegener, Antonius/Odermatt, Anastas: Religious affiliation as a baseline for religious diversity in contemporary europe. Making sense of numbers, wordings, and ultural meanings, Working Paper 02/2018, Swiss Metadatabase of Religious Affiliation in Europe,
www.smre-data.ch/en/content/download/159 (zuletzt abgerufen: 08.11.2021).
3 Studie von Kantar Belgien: Discrimination in the European Union. Special Eurobarometer 493, 2019, www.europa.eu/eurobarometer/api/deliverable/download/file?deliverableId=71116 , Table 11-12 (zuletzt abgerufen: 08.11.2021).
4 Pfündel, Katrin/et al.: Muslimisches Leben in Deutschland 2020. Studie im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz, www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Forschung/Forschungsberichte/fb38-muslimisches-leben.html?nn=403976 (zuletzt abgerufen: 08.11.2021).
5 Siehe Liedhegener/Odermatt, Fn. 2.
6 Hackett, Conrad/ et al.: The Future of World Religions: Population Growth Projections, 2010-2050, Pew Research Center am 02.04.2015, https://assets.pewresearch.org/wp-content/uploads/sites/11/2015/03/PF_15.04.02_ProjectionsFullReport.pdf Stonawski, S. 53, 147 ff. (zuletzt abgerufen: 08.11.2021)..
7 Hackett, Conrad/ et al.: Europe’s Growing Muslim Population, Pew Research Center am 29.11.2017, www.pewforum.org/2017/11/29/europes-growing-muslim-population (zuletzt abgerufen: 08.11.2021).

Kommentare

Dieser Beitrag hat keine Kommentare.

Schreiben Sie einen Kommentar

Sie können gern den Beitrag kommentieren. Ihnen stehen maximal 600 Zeichen zur Verfügung. Die EIR-Redaktion behält sich die Veröffentlichung vor.