Die neue Eigenständigkeit der christlich-orthodoxen Kirchen in der Ukraine – auch ein staatspolitisches Signal im derzeitigen russischen Angriffskrieg

24. 08. 2023
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Mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg setze Russland Bedingung für die jüngst erfolgte Abspaltung der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche vom Patriarchat von Moskau. Die Abkehr von dieser historisch bedingten Verbindung kann dabei als weiteres Zeichen des ukrainischen Volkes und Staates verstanden werden, ihren Souveränitätsanspruch gegenüber der russischen Führung durchsetzen zu wollen.

Die Geschichte des orthodoxen Christentums der Großen Rus (Großrusslands, einschließlich der Ukraine und vieler anderer Staaten) stellt sich als ein besonders wechselhafter Weg der religionsrechtlichen Verselbständigung dar. Bemerkenswert dabei sind zum einen die Entwicklungsschritte innerhalb der verschiedenen staatskirchenrechtlichen Modelle vom Staatskirchentum über die brutale staatliche Verfolgung der Religionsangehörigen bis hin zu einem (relativ) freiheitlichen Trennsystem. Aber zum anderen auch das mit der Lossagung im Jahr 2022 von Moskau – gerade in der aktuellen Kriegslage – verbundene staatsrechtliche wie staatspolitische Signal und der damit gegenüber der russischen Führung bekundete Souveränitätsanspruch des ukrainischen Volkes.

Gleich zu Beginn des Hochmittelalters (988) kam es zunächst zur Abspaltung der Kiewer Rus von der Römisch-Katholischen Kirche und durch die 600 Jahre spätere (1589) Gründung des Moskauer Patriarchats zu der weiteren Trennung vom Griechisch-Orthodoxen Patriarchat in Konstantinopel und zur Begründung der Russisch-Orthodoxen Kirche.[1] Ein von Peter dem Großen zaristisch geprägtes Staatskirchentum bildete zunächst eine tiefe Kongruenz des russischen Staates mit den orthodoxen Kirchen. Die Abschaffung des Moskauer Patriarchats (1721) durch die Kirchenreform mit der Einsetzung des „Heiligsten dirigierenden Synods“ stellte aber bereits eine Lockerung dieser sehr engen Verbindung dar.[2]

Eine Restauration des Moskauer Patriarchats (1917) in den Wirren der Oktoberrevolution ließ schließlich erstmals eine vom Staat unabhängige Kirche entstehen. Die formelle Trennung von Kirche und Staat erfolgte unter Lenin freilich sehr aggressiv mittels Enteignung, Religionsunterrichtsverbot und Verfolgung und Tötung Hunderttausender von Gläubigen. Faktisch kontrollierte und unterdrückte der Sowjet-Staat die Religionen aber nahezu komplett und propagierte den Atheismus. Erst der Zusammenbruch der Sowjetunion führte zu wirklicher Religionsfreiheit und die christlich-orthodoxe Religion entwickelte sich zu einem nationalen, kulturellen und staatlichen Identifikationsfaktor. Als mitgliederstärkste Organisationen entstanden die Orthodoxe Kirche der Ukraine sowie die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche; diese hatte seit 1990 als autonome Kirche innerhalb der Russisch-Orthodoxen Kirche wiederum dem Patriarchat Moskau unterstanden und sich nun 2022 von diesem losgesagt. Damit hat die Ukraine nunmehr zwei eigenständige christlich-orthodoxe Kirchen: die autokephale Orthodoxe Kirche der Ukraine und die jetzt von Moskau losgelöste Ukrainisch-Orthodoxe Kirche.

Diese Abspaltung der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche 2022 vom Patriachart der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK) ist weit mehr als eine theologisch-eklesiastische Lossagung, vielmehr eine politisch-kulturelle Emanzipation des ukrainischen Volkes. Der völkerrechtswidrige, von zahlreichen russischen Kriegsverbrechen begleitete Angriffskrieg Russlands wurde gleich zu Beginn durch Kyrill I., dem Patriarchen in Moskau und mutmaßlichen früheren KGB-Agenten, in religiös höchst fragwürdiger Weise legitimiert („Heiliger Krieg“).[3] Die dadurch interpretierbare Staatshörigkeit der ROK („Konzept der russischen Welt“) zwang die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche gleichsam zu diesem Schritt. 

Denn die Gründung einer eigenständigen ukrainischen Kirche[4] bildet so zugleich auch ein Dokument des staatlichen Souveränitätsanspruchs. Die Nähe und Staatstreue des Patriarchen und der ROK zum russischen Präsidenten verlieh diesem auch eine gewisse Lenkungsmacht über die ukrainischen Gläubigen; davon haben sich die ukrainischen Christen befreit. Dies bezeugt, dass die mutige Verteidigung der Ukrainer nicht nur auf dem Gebiet ihrer territorialen und politischen Integrität geschieht, sondern auch in Bezug auf ihre kulturelle, zivilgesellschaftliche und religiöse Selbständigkeit und Souveränität. 

Die christlich-orthodoxen Kirchen haben in der Ukraine und Russland – im Gegensatz zur schwindenden Bedeutung der christlichen Kirchen im „Westen“ – eine bedeutende gesellschaftliche und politische Wirkkraft. Auch wenn sie jeweils institutionell und organisatorisch vom Staat getrennt sind, so haben sie dennoch eine starke kulturelle, aber auch politische, Leitfunktion für die Bevölkerungen. In beiden Staaten tragen die christlich-orthodoxen Kirchen die jeweilige Regierungshaltung zum russischen Angriffskrieg grosso modo mit: in Russland wird er unterstützt („Heiliger Krieg gegen den dekadenten Westen“[5]), in der Ukraine wird er verurteilt („Brudermord“[6]). Auch ohne eine engere institutionelle Verflechtung von Kirche und Politik lässt dies die Steuerungsfunktion des geltenden staatskirchenrechtlichen Modells erkennen. In diesem Sinne bildet die Loslösung einer ukrainischen Kirche vom Moskauer Patriarchat zugleich auch eine bedeutende staatspolitische und staatsrechtliche Dokumentation des Souveränitätsanspruches des ukrainischen Volkes und Staates. Sie stärkt die eigene ukrainische religiöse, aber auch staatliche, Identität und kann auf diese Weise ein Faktor der mutigen Widerstandskraft der Ukraine sein.

Fußnoten

Fußnoten
1 Vgl. Luchterhandt, Die Religionsgesetzgebung der Sowjetunion, Berlin 1978, S. 9.
2 Vgl. von Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Auflage, München 2006, S. 354.
3 Siehe dazu auch Rachel / Miron, Europa und christliche Orthodoxie, Konrad Adenauer Stiftung, 2022, unter: https://www.kas.de/documents/252038/16166715/Europa+und+christliche+Orthodoxie.pdf/d77bf181-05d2-aa0a-ef5e-4421e9b37754?version=1.0&t=1670335863264 (abgerufen am 14.08.2023), S. 5.
4 Vgl. Dettmer, The end of days for Russia’s church in Ukraine, politico.eu am 24.04.2023, unter: https://www.politico.eu/article/end-days-russia-orthodox-church-ukraine/ (abgerufen am 14.08.2023).
5 Jansen, Warum rechtfertigt Patriarch Kyrill Putins Krieg? FAZ.net am29.05.2023, unter https://www.faz.net/aktuell/politik/politische-buecher/warum-rechtfertigt-der-patriarch-kyrill-putins-krieg-18927227.html (abgerufen am 14.08.2023).
6 o. A., „Kirchenstreit und Bruderkrieg“: „kreuz und quer“ beleuchtet die oft unterschätzten Hintergründe des aktuellen Ukraine-Kriegs, ots.at am 24.05.2023, unter: ots.at/presseaussendung/OTS_20220523_OTS0065/kirchenstreit-und-bruderkrieg-kreuz-und-quer-beleuchtet-die-oft-unterschaetzten-hintergruende-des-aktuellen-ukraine-kriegs (abgerufen am 14.08.2023).

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