Wenn ein Zauberlehrling Religionspolitik macht – Der Fall Abraham Geiger Kolleg und die Pflicht zur Neutralität. Eine Entgegnung zum Beitrag von Angelika Günzel

15. 09. 2025

Der Blogbeitrag von Dr. Günzel wirft Fragen auf, die nicht nur das Abraham Geiger Kolleg, sondern grundlegende Prinzipien des Religionsverfassungsrechts berühren. Diese Entgegnung stellt den Sachverhalt dar, wendet die verfassungsrechtlichen Grundsätze auf den Fall an und beleuchtet die Tragweite: Das Vorgehen der Bundesregierung gefährdet die pluralistische Struktur des Judentums in Deutschland und hat gefährliche Signalwirkung für andere Religionsgemeinschaften. Der Beitrag ist nicht nur eine Verteidigung des AGK, sondern ein Plädoyer für die Integrität des Religionsverfassungsrechts insgesamt.

Der Beitrag von Dr. Angelika Günzel unter dem Titel „Schlagen Sie Ihre Frau noch?“ Oder: Die Kunst des richtigen Fragens wirft Fragen auf, die nicht nur das Abraham Geiger Kolleg (AGK), sondern grundlegende Prinzipien des deutschen Religionsverfassungsrechts betreffen. Günzel kritisiert die Kleine Anfrage einer Oppositionsfraktion zum Förderstopp des AGK und verteidigt die Entscheidung der Bundesregierung, die institutionelle Förderung zugunsten einer neu gegründeten Stiftung unter dem Dach des Zentralrats der Juden in Deutschland zu beenden.

Diese Argumentation greift jedoch zu kurz und verkennt zentrale Maßstäbe. Die Entgegnung setzt deshalb an drei Ebenen an: Erstens wird der konkrete Sachverhalt dargestellt – die parlamentarische Anfrage, die haushaltsrechtliche Situation und die Diskussion um Missbrauchsvorwürfe. Zweitens werden die einschlägigen verfassungsrechtlichen Grundsätze – Neutralitätspflicht, Parität der Religionsgemeinschaften und Selbstbestimmungsrecht – erläutert und auf den Fall angewendet. Drittens wird auf die grundsätzliche Tragweite eingegangen: Das Vorgehen der Bundesregierung gefährdet nicht nur die pluralistische Struktur des Judentums in Deutschland, sondern birgt auch eine gefährliche Signalwirkung für andere Religionsgemeinschaften. Könnten sich ultra-konservative oder legalistische Strömungen auf ein solches Präjudiz berufen oder gar ermuntert sehen, liberale Stimmen zu marginalisieren?

Damit ist die Entgegnung nicht nur eine Verteidigung des AGK, sondern ein Plädoyer für die Integrität des Religionsverfassungsrechts insgesamt.

1. Zur Form der Anfrage und des Beitrags

Die von Frau Dr. Günzel gewählte Überschrift ist polemisch und dem Anspruch einer wissenschaftlich-juristischen Argumentation nicht angemessen. Eine Kleine Anfrage ist ein zentrales parlamentarisches Kontrollinstrument. Es ist das gute Recht – ja die Pflicht – von Abgeordneten, insbesondere bei Fragen der Verwendung von Steuermitteln, präzise Nachfragen an die Exekutive zu richten. Dies gilt umso mehr, wenn im Haushaltsplan bestehende Titel gestrichen und neue Empfänger aufgenommen werden.

2. Institutionelle Förderung und der Fall des Abraham Geiger Kollegs

Das Abraham Geiger Kolleg (AGK) war seit 2009 institutionell gefördert. Institutionelle Förderung bedeutet eine dauerhafte Unterstützung der gesamten Einrichtung, während Projektförderung zeitlich befristet ist. Das sogenannte „Omnibus-Prinzip“ des Bundeshaushaltsrechts sieht vor, dass neue Empfänger institutioneller Förderung nur aufgenommen werden können, wenn andere ausscheiden. Das AGK ist jedoch nicht freiwillig „ausgestiegen“, sondern wurde „hinausgedrängt“ – es wurde durch die Nathan Peter Levinson Stiftung ersetzt, die erst 2024 gegründet wurde. Dies bedarf einer besonderen Rechtfertigung.

3. Zu den Missbrauchsvorwürfen

Die von Günzel angeführten Vorwürfe gegen das AGK rechtfertigen nicht ohne Weiteres die Beendigung der staatlichen Förderung. Weder das Grundgesetz noch einfaches Recht sehen vor, dass Missbrauchsvorwürfe automatisch den Entzug staatlicher Förderung rechtfertigen. Erst recht dann nicht, wenn es keine gerichtlichen Feststellungen gibt, die die geförderte Institution selbst belasten. Auch in anderen Religionsgemeinschaften – etwa christlichen Kirchen – hat der Staat trotz massiver Missbrauchsskandale die Förderung nicht beendet oder durch eine andere ACK-Mitgliedskirchen ersetzende Institutionen gründen lassen. Vielmehr gilt: Religionsgemeinschaften besitzen Selbstheilungskräfte und sind gehalten, Reformen einzuleiten. Dies hat auch das AGK – als Institution einer Religionsgemeinschaft – getan, indem es seit 2023 unter die Trägerschaft der Jüdischen Gemeinde zu Berlin gestellt und umfassend restrukturiert wurde.

4. Neutralitätspflicht des Staates

Von zentraler Bedeutung ist das Neutralitätsgebot. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass der Staat bei der Förderung von Religionsgemeinschaften keine Abhängigkeiten zwischen konkurrierenden Gemeinschaften schaffen darf: „Aus dem Grundsatz der religiösen und weltanschaulichen Neutralität des Staates […] folgt, dass der Staat auf eine am Gleichheitssatz orientierte Behandlung der verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu achten hat. Wo er mit Religionsgesellschaften zusammenarbeitet oder sie fördert, darf dies nicht zu einer Identifikation mit bestimmten Religionsgesellschaften oder zu einer Privilegierung bestimmter Bekenntnisse führen“[1].

Das Argument der Bundesregierung, das AGK habe das Vertrauen der „organisierten jüdischen Gemeinschaft“ verloren, verstößt gegen dieses Neutralitätsgebot. Der Staat darf die Förderung nicht davon abhängig machen, ob eine Mehrheitsorganisation – hier der Zentralrat der Juden – einer anderen Strömung Vertrauen ausspricht.

Auch die Fachgerichte haben betont, dass die Mittelvergabe nicht in Abhängigkeit von konkurrierenden Dachverbänden erfolgen darf. So stellte das OVG Magdeburg klar: „Mit den Geboten staatlicher Neutralität […] ist unvereinbar, dass die Klägerin durch die Übertragung der Mittelvergabe an den beklagten Landesverband in ein Verhältnis der Abhängigkeit zu diesem gebracht wird“[2].

Ebenso entschied das VG Halle, dass zur Vermeidung institutioneller Befangenheit eine neutrale Instanz einzuschalten ist: „Um diese jedenfalls mittelbar bestehende institutionelle Befangenheit […] auszuschließen, ist Art. 13 des Staatsvertrages 2006 verfassungskonform so auszulegen, dass die Einschaltung einer dritten neutralen Instanz, die die Mitgliederzahlen objektiv prüft und damit den Verteilungsschlüssel vorgibt, geboten ist“[3].

Diese Rechtsprechung lässt sich auf den Fall des AGK übertragen: Die Beendigung der Förderung darf nicht durch einseitige Stellungnahmen des Zentralrats der Juden in Deutschland (ZdJ) legitimiert werden.

5. Rolle des Zentralrats der Juden

Frau Dr. Günzel verkennt, dass der Zentralrat der Juden nicht die Gesamtheit des Judentums in Deutschland repräsentiert. Wie die Literatur ausführt: „Der Zentralrat der Juden in Deutschland […] versteht sich zwar als ‚Spitzenorganisation der Jüdischen Gemeinden in Deutschland‘, kann gleichwohl nicht für sich in Anspruch nehmen und will es auch nicht, alle Juden in Deutschland zu repräsentieren“[4]. Ob der ZdJ selbst eine Religionsgemeinschaft ist oder nicht, kann für die hier zu behandelnde Frage offen bleiben.

Im Judentum existiert eine liberale Religionsgemeinschaft mit Körperschaftsstatus, die Union progressiver Juden in Deutschland (UPJ KdöR). Sie ist Mitglied der European Union for Progressive Judaism (EUPJ) und der World Union for Progressive Judaism (WUPJ), mit weltweit 1,8 Millionen Mitgliedern. Diese ist Vertragspartnerin der Universität Potsdam und ihr als Religionsgemeinschaft ist das AGK zugehörig. Maßgeblich ist damit das Selbstbestimmungsrecht der UPJ und nicht eine Bewertung des ZdJ.

6. Körperschaftsstatus und Selbstbestimmungsrecht

Das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften schützt ihre innere Organisation. Der Staat darf nicht willkürlich in diese Strukturen eingreifen. Das VG Freiburg stellte fest: „Die Aberkennung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts ist ein belastender Verwaltungsakt […] der nur auf Grund eines Gesetzes ergehen darf. […] Allein der Antrag einer ‚altkorporierten‘ Religionsgemeinschaft, einer ihrer Gemeinden […] den Status […] abzuerkennen, ist kein hinreichender Grund“[5].

Auch das BVerwG hat hervorgehoben: „Die Organisationsgewalt gibt den korporierten Religionsgemeinschaften die Befugnis, Untergliederungen zu bilden […]. Die Zuerkennung der Körperschaftsrechte an eine solche Untergliederung ist ebenso wie ihre Aberkennung staatliche Mitwirkung an einem Organisationsakt der Religionsgemeinschaft, der inhaltlicher Überprüfung durch staatliche Behörden […] entzogen ist“[6].

Das Selbstbestimmungsrecht ist ein sehr starkes Recht und bedeutet: Ob das AGK als Einrichtung der UPJ fortbesteht, ist eine Frage des inneren Selbstbestimmungsrechts – nicht des ZdJ oder des Staates.

7. Schlussfolgerung und religionspolitischer Ausblick

Die Beendigung der Förderung des Abraham Geiger Kollegs verstößt gegen tragende Grundsätze des Religionsverfassungsrechts:

  • das Neutralitätsgebot des Staates,
  • den Grundsatz der Parität verschiedener Strömungen,
  • das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften.

Das AGK hat sich reformiert, es wird von seinen Studierenden getragen, es ist international anerkannt und Teil der größten weltweiten jüdischen Organisation (WUPJ). Eine Diskriminierung gegenüber anderen Religionsgemeinschaften oder eine Abhängigkeit vom Zentralrat ist mit dem Grundgesetz unvereinbar.

Zudem birgt das Vorgehen der Bundesregierung eine gefährliche Signalwirkung über den Einzelfall hinaus. Überträgt man die Logik auf andere Religionsgemeinschaften in Deutschland, so könnte dies ultra-konservativen oder legalistischen Strömungen als Steilvorlage dienen. Sie könnten argumentieren, dass allein die „größere organisierte Gemeinschaft“ als legitimer Ansprechpartner des Staates gilt, während liberale bzw. progressive Verbände marginalisiert würden. Damit würde der Staat ungewollt dazu beitragen, dass gerade jene Kräfte gestärkt werden, die liberale und pluralistische Ausrichtungen einer Religionsgemeinschaft in Deutschland unterdrücken wollen.

Ein solches Präjudiz widerspricht nicht nur den Grundsätzen der Neutralität, sondern unterminiert das zentrale Ziel des Religionsverfassungsrechts: die Sicherung religiöser Vielfalt und die Förderung freiheitlicher Strömungen. Was im Falle des AGK zu geschehen droht, darf nicht zum Vorbild für den Umgang mit Religionsgemeinschaften werden.

Anmerkung des Autors: Um auf den Text von Frau Dr. Günzel angemessen reagieren zu können, wurde das Thema mit Juristen diskutiert.

Fußnoten

Fußnoten
1 BVerfG, Beschl. v. 12.05.2009 – 2 BvR 890/06 = BVerfGE 123, 148 [173], NVwZ 2009, 1217.
2 VG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 20.07.2011 – 3 L 172/09 = BeckRS 2011, 56495.
3 VG Halle, Urt. v. 26.03.2009 – 3 A 94/07 HAL = BeckRS 2014, 46777.
4 Schwarz, Rechtsstellung jüdischer Gemeinden, LKV 2008, 344 (346).
5 VG Freiburg, Urt. v. 21.06.2007 – 4 K 1268/06 = BeckRS 2007, 25309.
6 BVerwG, Beschl. v. 08.01.2009 – 7 B 42/08 = NVwZ 2009, 390 (391).

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