Neujustierung statt Rückkehr: Das BVerfG „europäisiert“ das kirchliche Selbstbestimmungsrecht

28. 10. 2025

Der erwartete „Showdown“ zwischen BVerfG und EuGH im Fall Egenberger blieb aus – und doch setzt Karlsruhe ein Ausrufezeichen. Das BVerfG stärkt das kirchliche Selbstbestimmungsrecht, ohne die EuGH-Vorgaben infrage zu stellen. Statt der Rückkehr zur alten Linie müssen die Kirchen künftig die Bedeutung einer Stelle für ihr religiöses Selbstverständnis darlegen und den Zusammenhang zwischen religiösem Ethos und beruflicher Anforderung begründen. Dies ist kein Bruch mit dem Unionsrecht, sondern eine selbstbewusste Weiterentwicklung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts im europäischen Kontext.

Angesichts der augenscheinlichen Widersprüche[1] zwischen der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in den Rechtssachen Egenberger[2] und Chefarzt[3] stellte man sich die Frage, ob es im Rahmen der Verfassungsbeschwerde im Fall Egenberger zum großen „Showdown“[4] kommen würde. Denn im Lissabon-Urteil hatte das BVerfG explizit den Status von Religionsgemeinschaften als besonders sensibel für die Verfassungsidentität benannt.[5] Der große Showdown – ein Konflikt zwischen dem BVerfG und dem EuGH – blieb jedoch aus. 

Und dennoch ist es ein deutliches Ausrufezeichen: Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts[6] (BAG) vom 25. Oktober 2018 wurde nun durch das BVerfG aufgehoben. Es verletzte das Evangelische Werk für Diakonie und Entwicklung e. V. in seinem Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 i. V. m. Art. 140 GG und Art. 137 Abs. 3 WRV. Statt eines Konflikts mit dem EuGH, gibt es erneut eine Rüge an das BAG. Schon einmal hatte das BVerfG das BAG scharf kritisiert: Dieses habe die Bedeutung und Tragweite des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts verkannt[7] und sich über den Maßstab der verfassten Kirche hinweggesetzt.[8] Jetzt hebt es erneut ein Urteil des BAG mit Verweis auf die Verletzung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts auf. Der Konflikt verläuft zwischen Karlsruhe und Erfurt.

Was aber folgt aus dem Beschluss des BVerfG?

I. Die EuGH-Rechtsprechung wird gebilligt

In einem sind sich das BAG und das BVerfG einig: Das Urteil des EuGH in der Rechtssache Egenberger stellt weder einen Ultra-vires-Akt[9] dar, noch führt es zu einer Rechtslage, die den vom Grundgesetz als unabdingbar vorausgesetzten Grundrechtsstandard im Hinblick auf das religiöse Selbstbestimmungsrecht unterschreitet.[10] Die Vorgaben des EuGH führten zwar dazu, dass „der Freiraum der Religionsgemeinschaften zur Bestimmung der beruflichen Anforderungen eingeschränkt und dadurch zugleich der Schutz der Arbeitnehmer vor Diskriminierung tendenziell gestärkt [werde]. Dieser Befund [bedeute] jedoch nicht, dass die Rechtsposition der Religionsgemeinschaften in der Abwägung übergangen würde – sie [setze] sich nur nicht ohne Weiteres gegenüber der anderen Rechtsposition durch.“[11] Das Bundesverfassungsgericht konstatiert vielmehr, dass das Unionsrecht zwar eine andere „Akzentuierung“ mit Blick auf die religiöse Selbstbestimmung vornimmt, im Ergebnis aber dennoch einen in der Sache mit dem deutschen Recht strukturell vergleichbaren Schutz bietet.[12] Das BVerfG nimmt mithin die Korrekturen des EuGH hin[13] und sieht sogar eine Überschneidung zwischen den vom EuGH definierten Voraussetzungen „wesentlich“, „rechtmäßig“, „gerechtfertigt“ und „verhältnismäßig“ mit der deutschen Grundrechtsdogmatik, die Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit fordert. Der abstrakte Prüfungsrahmen für die Abwägung zwischen dem religiösen Selbstbestimmungsrecht und den Arbeitnehmerrechten erfahre durch die Rechtsprechung des EuGH eine „Konkretisierung“. [14]

Insbesondere billigt das BVerfG auch die Interpretation des Art. 17 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), der aus Sicht des EuGH lediglich ein Abwägungsgebot statuiert.[15] Gerade dieser Artikel wäre ein möglicher Anknüpfungspunkt für die Annahme gewesen, die Rechtsprechung des EuGH sei kompetenzwidrig, sieht er doch vor, dass die Union den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, achtet und nicht beeinträchtigt. Das Bundesverfassungsgericht indes hat sich entschieden, nicht den Aufstand zu proben, sondern sieht vielmehr Raum für eine Auslegung, die das kirchliche Selbstbestimmungsrecht hinreichend berücksichtigt. Diesen gilt es zu nutzen.

II. Die neue Prüfpraxis 

Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG i. V. m. Art. 140 GG und Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV umfasst nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG „alle Maßnahmen, die der Sicherstellung der religiösen Dimension des Wirkens im Sinne des religiösen Selbstverständnisses und der Wahrung der unmittelbaren Beziehung der Tätigkeit zum Grundauftrag der Religionsgemeinschaft dienen.“[16] Darunter fällt auch „die rechtliche Vorsorge für die Wahrnehmung kirchlicher Dienste durch den Abschluss entsprechender Arbeitsverträge.“[17] Nach den hierfür vom EuGH vorgegebenen Grenzen und der Rechtsprechung des BAG schien die Freiheit der Kirchen beim Abschluss von Arbeitsverträgen massiv gestört, doch nunmehr gewinnt das BVerfG wieder die Oberhand über die Deutung der Rechtsprechung des EuGH, insbesondere in Bezug auf die Vereinbarkeit der Vorgaben mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben zum kirchlichen Selbstbestimmungsrecht.

Es ist eine zweistufige Schrankenprüfung vorzunehmen:

Auf der ersten Stufe geht es um „das objektiv überprüfbare Vorliegen eines direkten Zusammenhangs zwischen der vom Arbeitgeber aufgestellten beruflichen Anforderung, hier der Kirchenmitgliedschaft, und der fraglichen Tätigkeit. Dafür bedarf es einer entsprechenden Feststellung im Hinblick auf die sich aus dem Ethos der Religionsgemeinschaft ergebende Anforderung anhand von deren Darlegungen, die auf Plausibilität zu prüfen sind.“[18]

Auf der zweiten Stufe erfolgt dann eine Gesamtabwägung der betroffenen Interessen. Die in Rede stehende berufliche Anforderung muss im Hinblick auf die konkrete Tätigkeit für die Wahrung des religiösen Selbstverständnisses verhältnismäßig sein.[19] Hierbei gilt: „Je größer die Bedeutung der betroffenen Position für die religiöse Identität der Religionsgemeinschaft nach innen und/oder außen ist, desto mehr Gewicht besitzt [das kirchliche Selbstbestimmungsrecht] und das daraus von der Kirche abgeleitete Erfordernis der Kirchenmitgliedschaft.“ Bei der Besetzung von für die religiöse Identität bedeutsamen Positionen wird sich regelmäßig die Forderung der Kirche nach der Kirchenmitgliedschaft gegenüber dem Diskriminierungsschutz des Arbeitnehmers durchsetzen.[20] Umgekehrt gilt: Je geringer die Relevanz die Stelle für die Wahrung des religiösen Ethos hat, desto eher wird dem Diskriminierungsschutz der Vorrang zu geben sein.[21]

Die wohl bedeutendste Neuerung aber: Während das Bundesverfassungsgericht zuvor betonte die gerichtliche Kontrolle beschränke sich allein auf eine Missbrauchs- und Plausibilitätskontrolle.[22] Stellt es nunmehr klar: Das Erfordernis der beruflichen Anforderungen unterliegt der gerichtlichen Kontrolle,[23] dies selbstverständlich jedoch ohne dass das Ethos einer staatlichen Kontrolle unterfiele. Die Anforderungen an die Darlegungslast sind gestiegen. Künftig müssen die Kirchen daher den Bedarf der Religionsangehörigkeit plausibel und nachvollziehbar darlegen. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH haben die Kirchen jedoch ohnehin begonnen, stärker zu differenzieren[24] und die Nähe der Tätigkeit zum kirchlichen Ethos darzulegen.

III. Die Verkennung des Auslegungsspielraums durch das BAG

Die fehlende Berücksichtigung der bestehenden Spielräume ist es, aufgrund derer das BVerfG das Urteil des BAG aufhebt. Das BAG habe dem religiösen Selbstbestimmungsrecht nicht das Gewicht beigemessen, welches ihm nach der Verfassung zukommt.[25]

Zwar hatte das Evangelische Werk für Diakonie und Entwicklung dargelegt, warum es nach kirchlichem Selbstverständnis einen objektiven Zusammenhang zwischen der ausgeschriebenen Stelle und dem Erfordernis der Kirchenmitgliedschaft gebe, und aufgezeigt, dass es darum gehe, eine christliche Sicht auf Menschenrechtsverletzungen in den Parallelbericht zur UN-Antirassismuskonvention einfließen zu lassen, dennoch hatte das BAG eine eigenständige Interpretation der Bedeutung für die glaubwürdige Vertretung der Kirche nach außen vorgenommen.[26] Das BAG nutzte dabei nicht den Spielraum, den der EuGH gelassen hatte. In der Rechtssache Egenberger bestimmte dieser, dass auch die Notwendigkeit einer glaubwürdigen Vertretung der Kirchen nach außen eine Ungleichbehandlung wegen der Religion rechtfertigen kann.[27] Dennoch sah es das BAG im Fall von Frau Egenberger anders, was nun zu einem Rüffel aus Karlsruhe führte. 

IV. Summa

Das Bundesverfassungsgericht hat das Heft des Handelns wieder an sich genommen, nachdem das Bundesarbeitsgericht erneut allzu leichtfertig dem Antidiskriminierungsrecht gegenüber dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht den Vorrang gegeben hatte. Das Bundesverfassungsgericht greift dabei die Vorgaben des EuGH auf und macht sie sich gewissermaßen zu eigen. Klar ist: Die Kirchen müssen die Relevanz einer Stelle für das kirchliche Selbstverständnis künftig klarer herausarbeiten. Es ist mithin keine Rolle rückwärts in die Zeit vor den Entscheidungen des EuGH – sondern vielmehr eine selbstbewusste Neujustierung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts unter Berücksichtigung der unionsrechtlichen Vorgaben. Ganz im Sinne von Wolf Biermann: „Nur wer sich ändert, bleibt sich treu.“

Fußnoten

Fußnoten
1 Classen spricht von ersichtlich bewusst anderer Judikatur des EuGH: Classen, EuR 2018, 752 (764). Thüsing und Mathy sprechen von einem Bruch mit der Rechtsprechung des BVerfG: Thüsing/Mathy (2018): Diskriminierungsschutz von Stellenbewerbern und Auswahlermessen von Einrichtungen mit kirchlichem Auftrag, RIW 2018, 559 (561).
2 EuGH, Urt. v. 17.04.2018 – C-414/16 = NZA 2018, 569.
3 EuGH, Urt. v. 11.09.2018 – C-68/17 = NJW 2018, 3086.
4 Scholz (2021): Kirchliches Arbeitsrecht in Europa, S. 160.
5 BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 = NJW 2009, 2267, Rn. 252.
6 BAG, Urteil v. 25.10.2018 – 8 AZR 501/14 = BAGE 164, 117.
7 BVerfG 22.10.2014 – 2 BvR 661/12 = NZA 2014, 1387, Rn.163.
8 BVerfG 22.10.2014 – 2 BvR 661/12 = NZA 2014, 1387, Rn. 172.
9 Ultra-vires“ meint einen „ausbrechenden Rechtsakt“, also das Agieren außerhalb des Kompetenzbereiches (in dem Fall dem der EU).
10 BVerfG, Beschl. v. 29.09.2025 – 2 BvR 934/19, Rn. 235; BAG, Urt. v. 20.02.2019 – 2 AZR 746/14 = NZA 2019, 901, Rn. 48.
11 BVerfG, Beschl. v. 29.09.2025 – 2 BvR 934/19, Rn. 266 m. w. N.
12 BVerfG, Beschl. v. 29.09.2025 – 2 BvR 934/19, Rn. 266.
13 So hatte es schon Stein prognostiziert, siehe Stein (2018): Diskriminierungsschutz und Kirchenautonomie, ZESAR 2018, 277 (283).
14 BVerfG, Beschl. v. 29.09.2025 – 2 BvR 934/19, Rn. 222 ff.
15 BVerfG, Beschl. v. 29.09.2025 – 2 BvR 934/19, Rn. 237 ff.
16 BVerfG, Beschl. v. 29.9.2025 – 2 BvR 934/19, Rn. 182; BVerfG, Beschl. v. 22.10.2014 – 2 BvR 661/12 = NZA 2014, 1387 Rn. 95; BVerfG, Beschl. v. 04.06.1985 – 2 BvR 1703/83 = BeckRS 1985, 108897, u. a.; BVerfG, Beschl. v. 16.10.1968 – 1 BvR 241/66 = NJW 1969, 31.
17 BVerfG, Beschl. v. 29.09.2025 – 2 BvR 934/19, Rn. 182; BVerfG, Beschl. v. 22.10.2014 – 2 BvR 661/12 = NZA 2014, 1387 Rn. 95.
18 BVerfG, Beschl. v. 29.09.2025 – 2 BvR 934/19, Rn. 273.
19 BVerfG, Beschl. v. 29.09.2025 – 2 BvR 934/19, Rn. 206 f.
20 BVerfG, Beschl. v. 29.09.2025 – 2 BvR 934/19, Rn. 225.
21 BVerfG, Beschl. v. 29.09.2025 – 2 BvR 934/19, Rn. 225.
22 BVerfG, Beschl. v. 22.10.2014 – 2 BVR 661/12 = NZA 2014, 1387 (1388).
23 BVerfG, Beschl. v. 29.9.2025 – 2 BvR 934/19, Rn. 214.
24 Vgl. Grundordnung des kirchlichen Dienstes in der Fassung des Beschlusses der Vollversammlung des Verbandes der Diözesen Deutschlands vom 22. November 2022, unter: https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/VDD-Arbeitsrecht/Grundordnung-des-kirchlichen-Dienstes-22.-November-2022.pdf (abgerufen am 27.10.2025), sowie die Richtlinie des Rates über Anforderungen an die berufliche Mitarbeit in der Evangelischen Kirche in Deutschland und ihrer Diakonie (Mitarbeitsrichtlinie) in der Bekanntmachung der Neufassung vom 20. Januar 2024, unter: https://www.kirchenrecht-ekd.de/document/55297 (abgerufen am 27.10.2025).
25 BVerfG, Beschl. v. 29.09.2025 – 2 BvR 934/19, Rn. 272.
26 So die Kritik des BVerfG, siehe BVerfG, Beschl. v. 29.09.2025 – 2 BvR 934/19, Rn. 276 f.
27 EuGH, Urt. v. 17.04.2018 – C-414/16 = NJW 2018, 1869, Rn. 63.

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