90 Jahre Reichskonkordat (Teil 1) – Aktueller Forschungsstand

15. 08. 2023
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Das Reichskonkordat ist häufig Forschungsgegenstand wissenschaftlicher Arbeiten und gilt daher als überdurchschnittlich erforscht. Zuletzt gab der 90. Jahrestags der Unterzeichnung für viele Historiker und Juristen wieder Anlass, sich in zahlreichen Veranstaltungen und Veröffentlichungen mit dem vielschichtigen Thema zu beschäftigen.

Dieser Beitrag ist Bestandteil einer dreiteiligen Reihe.

Das vor 90 Jahren am 20. Juli 1933 unterzeichnete Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich wird bis heute regelmäßig mit als erstes genannt, wenn man das Verhältnis zwischen Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland problematisieren möchte. Als einer der ersten Verträge, die das nationalsozialistische Regime nach der Machtergreifung völkerrechtlich geschlossen hat, ist das Reichskonkordat – nach einem Diktum des bedeutenden Staatskirchenrechtlers Alexander Hollerbach, selbst Verfasser einer grundlegenden Studie zum Vertragsstaatskirchenrecht[1] – mit einer „genetischen Last“ belegt.[2] Die Umstände des Vertragsschlusses haben deshalb wissenschaftliche Debatten und Kontroversen ausgelöst.[3] Historiker und Juristen beschäftigten sich besonders intensiv mit der Materie. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und im zeitlichen Kontext der Konstituierung der Bundesrepublik Deutschland stand dabei vor allem die Frage nach der Fortgeltung des Reichskonkordats im Vordergrund. Mit dem Konkordatsurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. März 1957[4] treten die juristischen Kontroversen letztlich eher in den Hintergrund. Demgegenüber intensivierte sich die historische Forschung und führte mit Historikerstreiten wie die Scholder-Repgen-Kontroverse (zwischen 1977 und 1980) zu Grundsatzdebatten.[5]

Es nimmt nicht wunder, dass bei einer Veranstaltung der Katholischen Akademie und der Forschungsstelle für Katholisches Kirchenrecht des Erzbistums Berlin zum 90. Jahrestag der Unterzeichnung, die durch den Apostolischen Nuntius Erzbischof Eterović mit einem Grußwort eröffnete,[6] zwei Historiker im Vordergrund standen, die einerseits die Genese des Vertragsschlusses bis 1933 und andererseits die Rezeption des Reichskonkordats danach und insbesondere nach 1945 nachzeichneten.[7] Der in Potsdam lehrende Historiker Thomas Brechenmacher[8] verdeutlichte u. a., die Hoffnung des Vatikans, einen „pactum defensionis“ mit dem nationalsozialistischen Regime zu schließen, um sich gegen dessen diktatorische, antikirchliche Maßnahmen zu immunisieren, dahingehend, dass „man den Teufel in die Schranken weisen“ wollte, ohne ihm aber wirklich gewachsen zu sein. Letztlich blieb der Abschluss des Reichskonkordats hochambivalent: Die Wahrnehmung als ein Prestigeerfolg für die Nationalsozialisten, mit dem aber von Anfang an die Vertragsbrüchigkeit der nationalsozialistischen Seite verbunden war. Wenn auch angesichts „flagranter Vertragsbrüche“ der Nationalsozialisten, der Vertrag nichts vollends die Funktion effektive Abwehr kirchenkämpferischer Maßnahmen erfüllen konnte, so vermittelte er allem Anschein zum Trotz angeblich doch eine „beschränkte Sicherung“ gegenüber dem NS-Staat.[9] Eine Relativierung die angesichts des totalitären Regimes aus heutiger Sicht nicht wirklich verwundert. Es ist deshalb umso bemerkenswerter, dass nach der bedingungslosen Kapitulation und der Verabschiedung des Grundgesetzes das komplette Reichskonkordat nicht einfach zu einem obsolet gewordenen Vertrag degradiert wurde, sondern sehr heftig über die rechtliche Fortgeltung gerade dieses Vertragsinstrumentes gestritten worden ist.[10] Diesem Aspekt widmete sich der Hamburger Historiker Jan H. Wille, der dabei die wesentlichen Ergebnisse seiner Dissertation „Das Reichskonkordat. Ein Staatskirchenvertrag zwischen Diktatur und Demokratie 1933-1957“ bei der Veranstaltung vorstellen konnte. Für die Konstellation, den Willen zur Fortgeltung des Reichskonkordats auch nach dem Ende der NS-Zeit zu begründen, dürfte es nicht unerheblich gewesen sein, dass – worauf der Nuntius in seinem Grußwort hinwies – Papst Pius XII. gerne von „seinem“ Konkordat sprach: „C’est mon concordat!“[11] Und für die Bundesrepublik Deutschland war es eine gesamtdeutsche Klammer, die die rechtliche Identität der Bundesrepublik Deutschland mit dem Deutschen Reich nach der Debellation 1945 zum Ausdruck bringen konnte. Schon diese beiden Andeutungen lassen die Vielschichtigkeit der Diskussion um das Reichskonkordat erahnen. 

Im Vergleich zu anderen völkerrechtlichen Verträgen ist das Reichskonkordat hinsichtlich seiner staatlichen und kirchlichen Primärquellen weit überdurchschnittlich erforscht. Dies gilt sowohl für die eigentlichen Vertragsverhandlungen als auch die späteren Diskussionen über die Fortgeltung dieses Vertrags und dessen Relevanz in der politischen Praxis.[12] Schließlich sind – neben den vielen Monografien[13] – die vielfältigen Forschungen des Bonner Historikers Konrad Repgen zu nennen,[14] nach dem auch der erwähnte Historikerstreit benannt ist. 

In diesem und den folgenden Blogbeiträgen ist es nicht beabsichtigt, sämtliche historischen und juristischen Debatten nachzuzeichnen. Ebenso unterbleibt eine detaillierte Darstellung des Konkordatsprozesses als einem der großen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht in den Anfangsjahren der jungen Bonner Republik.[15] Im Vordergrund soll vielmehr in erster Linie die aktuelle, gegenwärtige Relevanz des Vertragsinstruments Reichskonkordat für die religionsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland stehen. Wenn man so will, beschränken sich die nachfolgenden Ausführungen eher auf grundlegende Aspekte dieses Vertragswerks und klammern andere Themen wie die Frage, ob der Heilige Stuhl diesen Vertrag hätte schließen dürfen, ebenso aus, wie eine tiefenscharfe Darstellung der einzelnen Vertragsmaterien. Diese waren überblicksmäßig bereits Gegenstand eines vorhergehenden Blogbeitrags. Der Abschluss des Reichskonkordats wird als Ausgangspunkt und normatives Faktum genommen. Über die Legitimität anderer Bewertungen wird nichts gesagt. Die juristische Frage, ob es ggf. Vertragsbestimmungen gibt, die als nationalsozialistisch kontaminiert gelten und deren Fortgeltung deshalb nachdrücklich infrage zu stellen wäre, ist durch den erwähnten Blogbeitrag bereits beantwortet. 

In der von Michael Germann so treffenden Charakterisierung der deutschen Staatskirchenvertragsgeschichte unter dem Label Verträge der ersten, zweiten, dritten und möglicherweise vierten Generation[16] nimmt das Reichskonkordat eine Sonderstellung ein. Im Gegensatz zu Konkordaten mit anderen ausländischen Staaten ist in Deutschland und dessen starker föderaler Tradition ein gesamtstaatlicher Vertrag die Ausnahme und der Staatskirchenvertrag mit einem Bundesland die Regel. 

 

Hier finden Sie Teil 2 der Beitragsreihe „90 Jahre Reichskonkordat“. Hier gelangen Sie zu Teil 3.

Fußnoten

Fußnoten
1 Es handelt sich um die Freiburger Habilitationsschrift von Alexander Hollerbach, Verträge zwischen Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, 1965.
2 Zu diesem Topos: Alexander Hollerbach, Artikel ‚Reichskonkordat (II.)‘, in: Staatslexikon, Bd. 4 (1988), Sp. 789 (791).
3 Informativ Antonius Hamers, Die Rezeption des Reichskonkordates in der Bundesrepublik Deutschland, 2010.
4 BVerfGE 6, 309.
5 Aufschlussreich Hubert Wolf, Reichskonkordat für Ermächtigungsgesetz, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 60 (2012), 169-200. Sehr lesenswert Mark Edward Ruff, Katholische Kirche und Nationalsozialismus. Erinnerungspolitik und historische Kontroversen in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1980, 2022, S. 337 ff.
6 Das Grußwort ist abrufbar unter: http://www.nuntiatur.de/detail/grusswort-von-nuntius-eterovic-zur-veranstaltung-90-jahre-reichskonkordat-1933-2023.html (abgerufen am 03.08.2023).
7 Vgl. den Korrespondentenbericht von Gregor Krumpholz, 90 Jahre Reichskonkordat von Hitler-Deutschland und Vatikan, in: KNA-Aktuell vom 15. Juni 2023, S. 8–9.
8 Herausgeber des Bandes: Das Reichskonkordat 1933. Forschungsstand, Kontroversen, Dokumente, 2007. Grundlegend von ihm auch: Im Sog der Säkularisierung. Die deutschen Kirchen in Politik und Gesellschaft (1945-1990), 2021.
9 Christoph Link, Kirchliche Rechtsgeschichte, 3. Aufl. 2017, § 29 Rn. 12.
10 Angesichts der besonderen Rechtslage Deutschlands nach der bedingungslosen Kapitulation und der Konstituierung der Bundesrepublik Deutschland (sowie der DDR) war es auch problematisch, ob einfach die allgemeinen völkerrechtlichen Vertragsregeln im Fall der Staatensukzession anwendbar waren. Die Frage der Staatennachfolge in Konkordate ist dabei keineswegs eindeutig. Näher Andreas Zimmermann, Staatennachfolge in völkerrechtliche Verträge, 2000, S. 531, zumal die Staatenpraxis „kein völlig einheitliches Bild“ ergibt (S. 542). Wegen der Identität der Bundesrepublik Deutschland mit dem Deutschen Reich spielte diese Uneinheitlichkeit in der Staatenpraxis hinsichtlich des Reichskonkordats letztlich keine ausschlaggebende Rolle.
11 Dazu Pietro Kardinal Parolin, Der Heilige Stuhl und Deutschland: 100 Jahre diplomatische Beziehungen (1920-2020), in: G. Wassilowsky (Hrsg.), Rom in Berlin, 2022, S. 192 (209).
12 Grundlegend für die Genese des Vertrages folgende beiden Bände: Staatliche Akten über die Reichskonkordatsverhandlungen 1933, bearb. von Alfons Kupper (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe A: Quellen, Bd. 2), Mainz 1969; Kirchliche Akten über die Reichskonkordatsverhandlungen 1933, bearb. von Ludwig Volk (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe A: Quellen, Bd. 11), Mainz 1969. Darüber hinaus lassen sich weitere hier nicht weiter nachzuweisende Quelleneditionen heranzuziehen. Für die Kontroversen und die praktische Bedeutung nach 1945 etwa die Akteneditionen des Parlamentarischen Rats sowie die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung u. a. m. heranziehen. Hervorgehoben sei M. F. Feldkamp (Hrsg.), Die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zum Heiligen Stuhl 1949–1966, 2000. Insgesamt geht die aktenmäßige Erforschung beständig weiter, dazu etwa Thomas Brechenmacher, Teufelspakt, Selbsterhaltung, universale Mission? Leitlinien und Spielräume der Diplomatie des Heiligen Stuhls gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland im Lichte neu zugänglicher vatikanischer Akten, in: Historische Zeitschrift 280 (2005) 592–645.
13 Ohne im Einzelnen den jeweiligen geschichtswissenschaftlichen Stellenwert zu behandeln, seien beispielhaft genannt: Ernst Deuerlein, Das Reichskonkordat. Beiträge zur Vorgeschichte, Abschluss und Vollzug des Konkordats zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich, 1956; Karl Dietrich Bracher, Nationalsozialistische Machtergreifung und Reichkonkordat. Ein Gutachten zur Frage des geschichtlichen Zusammenhangs und der politischen Verknüpfung von Reichskonkordat und nationalsozialistischer Revolution, 1956; Ludwig Volk, Das Reichskonkordat vom 20. Juli 1933. Von den Ansätzen in der Weimarer Republik bis zur Ratifizierung am 10. September 1933, 1972.
14 Insbesondere seien folgende Beiträge ausdrücklich genannt: Konrad Repgen, Reichskonkordat-Kontroversen und historische Logik, in: Funke u. a. (Hrsg.), Demokratie und Diktatur. Geist und Gestalt politischer Herrschaft in Deutschland und Europa. Festschrift für Karl Dietrich Bracher, 1987, S. 158–177; und besonders ders., Der Konkordatsstreit der fünfziger Jahre. Von Bonn nach Karlsruhe (1949-1955/57), in: Kirchliche Zeitgeschichte 3 (1990), 201–245.
15 Zeitnah dokumentiert von Giese/von der Heydte (Hrsg.), Der Konkordatsprozess (Veröffentlichungen des Instituts für Staatslehre und Politik, Bd. VII), 4 Bände, 1957–1959. Als Gesamtwürdigung dazu die demnächst erscheinende Hamburger Dissertation von Jan H. Wille, Das Reichskonkordat. Ein Staatskirchenvertrag zwischen Diktatur und Demokratie 1933–1957 (vrsl. 2024). Retrospektive Verfahrens- und Urteilsanalyse bei Ansgar Hense, Sechzig Jahre Konkordatsurteil des Bundesverfassungsgerichts. Bausteine zur Rekonstruktion des Kontextes und seine Folgewirkungen, in: Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart – Neue Folge 65 (2017), S. 357–392.
16 Michael Germann, Die Staatskirchenverträge der Neuen Bundesländer: Eine dritte Generation im Vertragsstaatskirchenrecht, in: S. Mückl (Hrsg.), Das Recht der Staatskirchenverträge. Colloquium aus Anlaß des 75. Geburtstages von Alexander Hollerbach, 2007, S. 91 ff. Siehe auch die Darstellung der einzelnen religionsvertragsrechtlichen Abmachungen bei Stefan Mückl, Verträge zwischen Staat und Kirchen sowie anderen Religionsgemeinschaften, in: Pirson/Rüfner/Germann/Muckel (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts, 3. Aufl., Bd. I (2020), § 10 Rn. 1–18.

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