Das religionspolitische Gesellschaftsmodell hat Reformbedarf

07. 11. 2021
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Die Kooperation von Staat und Religionsgemeinschaften muss weiterentwickelt werden. Es braucht dazu neue, flexible gesetzliche Rahmenbedingungen u. a. in den Bereichen Soziales, Gesundheit, im Bildungssektor und Seelsorge. Kann eine unabhängige Forschungsstelle neue Impulse setzen?

Drei Megatrends prägen die Diskussion über das Verhältnis von Religionen und Weltanschauungsgemeinschaften zum deutschen Staat: Säkularisierung, Pluralisierung und Individualisierung. Angesichts zunehmender Abkehr vom Glauben, dem Auftreten neuer Religionen und dem verbreiteten Rückzug in die individuelle Spiritualität gerät das etablierte religionspolitische Ordnungsmodell in Deutschland zunehmend unter Rechtfertigungsdruck. Der Ruf nach einer Abschaffung oder grundsätzlichen Reform der bewährten Kooperation von Staat und Religionsgemeinschaften geht aber an den Notwendigkeiten vorbei. Tatsächlich bietet das Kooperationsmodell vielfältige Möglichkeiten, auf die sich wandelnde religiöse Wirklichkeit zu reagieren und weiterhin Religionsfreiheit in hohem Maße zu gewährleisten. Allerdings erscheinen hierzu einige Anpassungen und Ergänzungen sinnvoll. Diesbezügliche Überlegungen sollten in drei Richtungen vorangetrieben werden.

Instrumente flexibilisieren

Während die traditionelle Kirchenbindung schwindet, genießen gemeinwohlorientierte Angebote der Kirchen, insbesondere in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Pflege weiterhin hohen Zuspruch. Allerdings steigen im Sozial- und Gesundheitsbereich (Krankenhäuser, Seniorenheim, Jugendhilfe, Kindergärten), im Bildungssektor (Schulen in freier Trägerschaft, Religionsunterricht an staatlichen Schulen) sowie im Bereich der Bestattungsordnungen sowie bei der Anstalts- und Militärseelsorge der Regelungsbedarf. Die aktuelle Diskussion über den Umgang mit dem kirchlichen Arbeitsrecht machen die Probleme der Kooperation deutlich.

Um diesem Regelungsbedarf Rechnung zu tragen und muslimische und jüdische Träger stärker in die gemeinwohlorientierte Arbeit einzubinden, ist eine Flexibilisierung der religionspolitischen Instrumente, je nach Sachbereich und Kooperationsmodus (Religionsunterricht, Anstalts- und Militärseelsorge, Körperschaften des öffentlichen Rechts, staatskirchenrechtliche Verträge bzw. Vereinbarungen sui generis) notwendig. Diese Flexibilisierung könnte durch neue gesetzliche Rahmenbedingungen aber auch durch zusätzliche Verwaltungsvereinbarungen und Vertragsformen realisiert werden. Sinnvoll erscheinen zusätzlich auch informelle Formate, wie etwa der 2017 von Kirchenreferenten erstellte Leitfaden mit Kriterien zur Verleihung des Körperschaftsstatus.

Forschung und Beratung stärken

Die Kooperationen der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften mit dem Staat betreffen unterschiedliche Zuständigkeitsbereiche bei Bundes- oder Länderministerien. Um die jeweiligen Zuständigkeiten der staatlichen und religiösen Partner zu kennen, bedarf es mehr Wissen über Akteure, ihre Ziele und Reichweiten. Diese Aufgabe könnte eine unabhängige wissenschaftlich ausgerichtete Stelle lösen. Sie sollte die Kooperationsverhältnisse beobachten, Impulse setzen und Empfehlungen aussprechen. Dies umfasst eine Beobachtung der religiösen Landschaft in Deutschland, einschließlich der fundamentalistisch ausgerichteten Gruppen. Zielgruppen einer solchen Forschungsstelle wären nicht nur Fachkreise, sondern auch kommunale, zivilgesellschaftliche und politische Entscheidungsträger sowie die Medien und die allgemeine Öffentlichkeit. Dies würde zu einer stärkeren Sichtbarkeit von Religionspolitik und ihrer Etablierung als eigenständiges Politikfeld beitragen. Formales Vorbild für eine solche Forschungsstelle, die von Bund und Ländern getragen werden sollte, könnte die Richterakademie, das „Forum Recht“ oder die Stiftung Wissenschaft und Politik sein.

Politische Koordinierung verbessern

Religionspolitische Fragen werden im politischen System Deutschlands an sehr unterschiedlichen Orten verhandelt. Nicht immer sind dabei Zuständigkeiten geklärt und Synergien gewährleistet. Die oben vorgeschlagene zentrale Forschungseinrichtung kann zu einer solchen Koordinierung, Klärung und Synergiebildung beitragen, aber sie muss politisch-institutionell ergänzt werden. Das Bundeskanzleramt und die Leitungen der Staatskanzleien sollten daher ein gemeinsames Gremium der religionspolitischen Koordinierung ins Leben rufen, das neue Trends und Herausforderungen aufgreift, Impulse und Ideen entwickelt und vernetzt und sachgerechte Lösungen aufzeigt. Eine solche Koordinierungsstelle wäre zugleich das institutionelle Gesicht der deutschen Religionspolitik.

Diese Überlegungen beruhen auf Beiträgen und Diskussionen der Fachtagung „Islam, Staat und Recht“, die vom 30. September bis 4. Oktober 2019 in Cadenabbia (Italien) stattgefunden hat.

 

Dieser Beitrag erschien am 12. November 2019 als Erstveröffentlichung auf kas.de

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