Lorenzo Vidino: Die Muslimbruderschaft im Westen – Überlegungen zu Begrifflichkeit und Analyse

06. 11. 2021

Gefahr für die Demokratie oder harmlose Glaubensbewegung? Um die Muslimbruderschaft im Westen ranken sich Vermutungen, Verharmlosungen und Verdächtigungen. Fest steht, dass die Bewegung längst in den meisten westlichen Ländern etabliert ist. Zur sachgerechten Einschätzung und Analyse ihrer Aktivitäten und Vernetzungen sind vor allem klare Kriterien und terminologische Sorgfalt notwendig.

Behörden und Beobachter in ganz Europa zeigen sich zunehmend besorgt über gewaltfrei agierende islamistische Organisationen oder „legalistische Islamisten“, wie sie in Deutschland zur Abgrenzung von terroristischen und gewaltorientierten Organisationen genannt werden. Insbesondere trifft dies auf in Europa operierende Ableger der Muslimbruderschaft (MB) zu. Auch in Deutschland wird diese Debatte geführt. Vertreter deutscher Sicherheitsbehörden haben wiederholt vor den Gefahren gewarnt, die von den Aktivitäten MB-naher oder MB-inspirierter Gruppen ausgehen. Diese Gruppen würden u.a. die Gesellschaft polarisieren und die Demokratie untergraben.[1] Auf lange Sicht, so der Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2018, „ist die aus dem legalistischen Islamismus resultierende Bedrohung für die freiheitliche demokratische Grundordnung größer, als jene durch den Jihadismus“.[2]

Die Bedrohung durch den legalistischen Islamismus nimmt zu.

Während in Deutschland und anderswo eine Reihe von Beobachtern diese negative Wahrnehmung teilt, nehmen andere eine weniger skeptische Haltung ein. Nirgendwo in Europa existiert eine allgemein akzeptierte Bewertung oder eine klare Politik gegenüber Netzwerken legalistischer Islamisten nach dem Vorbild der MB. Angesichts des erheblichen Einflusses, über den die kleine, aber straff organisierte Gruppe von MB-beeinflussten Organisationen im Westen innerhalb muslimischer Gemeinschaften und im allgemeinen Diskurs über den Islam verfügt, ist die oft von schrillen Tönen geprägte Debatte hierüber aber von erheblicher Bedeutung.

Obwohl die MB seit mehr als einem halben Jahrhundert in Europa präsent ist, sind nur wenige ihrer Merkmale klar und unumstritten. Die Schwierigkeiten beginnen bereits bei der Festlegung, was genau die Muslimbruderschaft ist. Tatsächlich besteht bei europäischen Analysten und Behörden keine Einigkeit darüber, ob bestimmte muslimische Organisationen oder Personen als „Teil“, als „verbunden mit“ oder als „inspiriert von“ der MB bezeichnet werden sollten. Während einige Beobachter dazu neigen, Verbindungen einzelner Personen und Organisationen zur MB zu überzeichnen, zeigen sich die Betroffenen in der Regel stark bemüht, diese Verbindungen herunterzuspielen oder zu verheimlichen. Es bleibt daher letztendlich unklar, was im Westen mit „der Muslimbruderschaft“ gemeint sein soll. Die politischen und rechtlichen Folgen dieser Unklarheit zeigen sich in Deutschland u.a. in einer Reihe von Klagen gegen Sicherheitsorgane und Kritiker, weil diese einzelne Personen und Organisationen als MB-nah bezeichnet oder eingestuft haben.

Die Merkmale der Muslimbruderschaft sind umstritten.

Das vorliegende Papier entwirft vor diesem Hintergrund eine allgemein anschlussfähige Begrifflichkeit und einen Analyserahmen, der eine einheitliche Erfassung und Kategorisierung von MB-Aktivitäten und MB-Netzwerken in westlichen Gesellschaften ermöglicht.

Die MB in der muslimisch geprägten Welt

Die MB ist die älteste und weltweit einflussreichste islamistische Bewegung. Seit ihrer Gründung hat sie die politischen, religiösen und sozialen Entwicklungen im arabischen Raum maßgeblich beeinflusst. Die seitens der MB vertretene Wahrnehmung des Islam als lückenloses und umfassendes System, das alle Aspekte des privaten und öffentlichen Lebens regelt, hat Generationen von Islamisten weltweit geprägt. Dies betrifft jene, die gewaltfrei agieren, aber auch solche, die sich vom Ansatz der Bruderschaft entfernt haben und zur Durchsetzung ihrer Ziele vom Einsatz brutaler Gewalt nicht zurückschrecken.

Ungeachtet ihres enormen Einflusses sind nur wenige Merkmale der MB unumstritten. Über ihre innere Funktionsweise, Ideologie und Ziele existieren sowohl im muslimischen Raum als auch im Westen zum Teil deutlich unterschiedliche Ansichten. Der Hauptgrund für diese Unklarheiten ist die notorische Verschwiegenheit der Gruppe. Da die MB in Ländern gegründet wurde (und meist operiert), deren Regime verschiedene Formen der Repression gegen sie einsetzen, gilt Verschwiegenheit und Tarnung für die Bewegung als notwendige Überlebenstaktik. Zudem wird eine einheitliche Wahrnehmung dessen, was die MB ist und will, dadurch erschwert, dass sich Ideologie und Taktik der Organisation bis zu einem gewissen Grad im Laufe der Zeit verändert haben und von Land zu Land variieren.[3]

Verschwiegenheit und Tarnung als Überlebenstaktik

Selbst der Name der Organisation kann unterschiedlich interpretiert werden. Am häufigsten wird der Begriff für die von Hassan al-Banna 1928 in Ägypten gegründete Organisation verwendet. Die ägyptische Muslimbruderschaft hat seitdem viele Phasen durchlaufen. Hierzu zählen lange Jahre der Unterdrückung durch verschiedene ägyptische Regime, aber auch – nach dem Sturz Präsident Mubaraks – eine kurze Phase an der Spitze des ägyptischen Staates. Trotz ihrer aktuell äußerst schwierigen Lage, wird der Begriff Muslimbruderschaft häufig in Bezug auf ihren ägyptischen Zweig verwendet, der Mutterorganisation aller anderen MB-Gruppierungen.

Die Kernbotschaft der MB und ihr Mobilisierungsansatz hat sich seit den 1940er Jahren in praktisch allen arabischen und mehrheitlich muslimischen Ländern verbreitet. In jedem Land haben Einzelpersonen die Weltanschauung der Gruppe übernommen, Netzwerke, Strukturen und Taktiken an die politischen Rahmenbedingungen und Entwicklungen vor Ort angepasst. Diese Netzwerke werden üblicherweise in jedem Land als Zweige der MB bezeichnet, obwohl diese Zuordnung keine Unterordnung unter die ägyptische Mutterorganisation impliziert.

Ein weltweit aktives Netzwerk

Der Begriff „Muslimbruderschaft“ wird oft aber auch mit einer dritten Bedeutung verwendet. Hiernach bezeichnet er die Gesamtheit der nationalen Zweige der MB und damit weltweit alle Gruppierungen, die der Ideologie und Methodik von Hassan al-Banna folgen. Nach dieser Vorstellung handeln alle diese Akteure auf der Grundlage einer gemeinsamen Weltanschauung, sind dabei aber operativ unabhängig und frei in der Verfolgung ihrer jeweils individuell formulierten Ziele. Trotz dieser operativen Unabhängigkeit betrachten sich die Personen und Einheiten, die der sogenannten weltweiten Muslimbruderschaft angehören, als Teil einer größeren Familie. Ihre Bande gehen über einen gemeinsamen Ursprung und ein gemeinsames ideologisches Fundament hinaus. Vielmehr bilden sie ein weltweites Netz organisatorischer, persönlicher und finanzieller Verflechtungen.

Schließlich wird der Begriff „Muslimbruderschaft“ auch zur Kennzeichnung einer Form des islamistischen Aktivismus herangezogen. Er bezeichnet dann eine Methodik sozio-religiös-politischer Mobilisierung, die über formelle und informelle Zugehörigkeiten hinaus von der MB inspiriert ist. Die Übernahme ihrer ideologischen Einstellungen durch unabhängige Gruppen wurde von der eigentlichen MB von ihren Anfängen bis heute positiv gesehen. Al-Banna selbst sprach sich für die Schaffung einer globalen Bewegung anstelle einer einheitlich strukturierten Organisation aus. Er sah die Bruderschaft als Idee und Glaubensbekenntnis, als ein System und Programm an, das nicht an einen Ort oder eine Gruppe von Menschen gebunden sei.[4] 2005 erklärte Mohammed Akef, damals Murschid (Anführer) des ägyptischen Zweigs der MB, dass jeder, der an den Weg der Muslimbruderschaft glaube, als Teil von ihnen angesehen werde.[5] Andere langjährige Mitglieder der MB haben die Bewegung als „common way of thinking“ und als „international school of thought“ bezeichnet.[6]

Geeint durch gemeinsame Methodik und Weltanschauung

Die MB im Westen

Das erste Auftreten von Muslimbrüdern im Westen lässt sich auf die späten 1950er und frühen 1960er Jahre datieren, als sich kleine, vereinzelte Gruppen von Aktivisten aus verschiedenen Ländern des Nahen Ostens in Städten in ganz Europa und Nordamerika niederließen. Einige dieser frühen Protagonisten, wie Said Ramadan und Yussuf Nada, waren prominente Mitglieder der ägyptischen MB, die vor der Unterdrückung durch das Nasser-Regime geflohen waren. In den folgenden Jahrzehnten fanden auch MB-Mitglieder aus anderen Ländern des Nahen Ostens Zuflucht im Westen.

Mehrheitlich waren die Aktivisten, die damals in westliche Länder kamen, allerdings Studenten und damit Angehörige der gebildeten Mittelschicht, die sich bereits in ihren Heimatländern der Bruderschaft angeschlossen oder in ihrem Umfeld bewegt hatten. Bei der Fortsetzung ihrer Studien im Westen setzten sie in neuer Umgebung ihre Beteiligung an islamistischen Aktivitäten fort. Die Verbindung von erfahrenen Führungspersönlichkeiten und motivierten Studenten zeigte bald ihren Nutzen. Es waren Aktivisten der Bruderschaft, die damals einige der ersten muslimischen Organisationen im Westen bildeten – meist in Form kleiner Studentengruppen.

Die Anfänge der Muslimbruderschaft im Westen

Die Ankunft der ersten Muslimbrüder in Europa und Nordamerika ist schwerlich, wie teilweise behauptet, als erste Phase einer abgestimmten und geplanten Unterwanderung mit dem Ziel einer Islamisierung des Westens zu sehen.[7] Anfangs bildeten sie kleine, zerstreute Gruppen, deren Aktivitäten nicht auf einer umfassenden Strategie, sondern eher auf der persönlichen Motivation einiger Einzelpersonen beruhte, die sich entschlossen hatten, einige Jahre oder sogar den Rest ihres Lebens im Westen zu verbringen. Doch das Wachstum der kleinen Organisationen, die sie damals bildeten, übertraf bald die optimistischsten Erwartungen. Aus den Studentengruppen der MB entwickelten sich Organisationen, welche die religiösen Bedürfnisse der rasch wachsenden muslimischen Bevölkerung im Westen zu erfüllen versuchten. Auch die damals entstehenden Moscheen, die oft als Mehrzweck-Gemeinschaftszentren angelegt waren, zogen viele Gläubige an.

Ende der 1980er Jahre setzte sich in den europäischen MB-Gruppen allmählich die Einsicht durch, dass ihr Aufenthalt im Westen dauerhaft sein würde und ein wichtiger Aktivposten für die weltweite Bewegung darstellen könnte. Während sie die Bemühungen der nahöstlichen MB zur Errichtung „islamischer Staaten“ zwar weiterhin in Wort und Tat unterstützten, fokussierten sie ihre Aktivitäten im Westen zunehmend auf ihre neue Umgebung und begannen damit, die hiesigen muslimischen Gemeinschaften an ihre Auslegung des Islams heranzuführen. Dem komplexen Organisationsmodell al-Bannas folgend, bildeten sie ein immer größer werdendes Geflecht sich überschneidender Organisationen, deren Aktivitäten von Bildungsangeboten bis hin zu finanziellen Dienstleistungen, politischer Lobbyarbeit und Wohltätigkeit reichen. Die üppigen Mittel, die von wohlhabenden öffentlichen und privaten Spendern aus den arabischen Golfstaaten bereitgestellt wurden, ermöglichten finanzielle Spielräume, welche ihre eigentlichen Möglichkeiten weit überschritten.

Ein komplexes Organisationsmodell entwickelt sich.

Zudem begannen die westlichen Muslimbrüder, sich in vielen Ländern gegenüber Wettbewerbern als bevorzugte Ansprechpartner von Behörden und Zivilgesellschaft zu positionieren. Zwar unterscheiden sich die Rahmenbedingungen von Land zu Land, aber wenn westliche Regierungen oder Medien versuchen, mit muslimischen Gemeinschaften in Kontakt zu treten, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass viele, wenn nicht alle der Organisationen oder Einzelpersonen, die sich einbringen, mit dem Netzwerk der westlichen Muslimbrüder verbunden sind – wenngleich unterschiedlich stark. Natürlich finden sich Ausnahmen, und in mehreren Ländern haben sich die Verhältnisse in den letzten Jahren geändert, aber insgesamt ist offensichtlich, dass keine andere islamische Bewegung über die Sichtbarkeit, den politischen Einfluss und die Zugänge zu westlichen Eliten verfügt, den die MB im Westen in den letzten Jahrzehnten erreicht hat. Angesichts dieser Entwicklung ist es gerechtfertigt, beim Wettbewerb um die Repräsentation der westlichen Muslime vom relativen Sieg einer gut organisierten Minderheit über andere, weniger organisierte Minderheiten zu sprechen, die der schweigenden Mehrheit eine Stimme verleiht.

Einschätzungen zur westlichen MB gleichen denen zur weltweiten islamistischen Bewegung in starkem Maße. Hierbei ist zwischen Optimisten und Pessimisten zu unterscheiden. Die Optimisten sind der Ansicht, dass die MB im Westen primär eine sozial-konservative Kraft darstellt. Im Gegensatz zu anderen Bewegungen, mit denen sie oft fälschlicherweise in einen Topf geworfen werden, fördere die MB die Integration muslimischer Gemeinschaften im Westen und biete ein Modell, nach dem Muslime hier ihren Glauben leben, eine islamische Identität bewahren und zugleich aktive Staatsbürger sein können.[8] Deshalb, so argumentieren die Optimisten, sollten westliche Regierungen die Aktivitäten der hiesigen MB unterstützen und mit ihnen kooperieren.

Unterschiedliche Wahrnehmungen und Einschätzungen

Pessimisten sehen die westliche MB wesentlich problematischer. Mit Hilfe erheblicher Ressourcen und unterstützt von Fehlwahrnehmungen vieler westlicher Beobachter, so argumentieren sie, betrieben die westlichen MB-Gruppen ein langsam, aber zielstrebig verfolgtes Programm des Social-Engineerings, das darauf abziele, die muslimischen Bevölkerungen im Westen zu islamisieren. Dadurch konkurrierten sie mit westlichen Regierungen um die Loyalität der Muslime. Für die Pessimisten sind diese MB-Gruppen zeitgenössische trojanische Pferde, die mit subversiven Methoden westlich-demokratische Ordnungsmodelle von innen heraus schwächen und geduldig die Grundlagen für deren Ablösung durch eine islamische Ordnung legen wollen.[9] Der Umstand, dass die MB im Westen keine Gewalt anwendet, sondern am demokratischen Prozess teilnimmt, wird schlicht als kalte Berechnung angesehen. Dieser Berechnung läge die Erkenntnis zugrunde, dass es in der momentanen Position relativer Schwäche besser sei, sich den vorgegebenen politischen Rahmenbedingungen anzupassen.

Die Meinungen über die MB gehen also stark auseinander – nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch innerhalb praktisch jeder westlichen Regierung. Dies führt zu starken Widersprüchlichkeiten in der Politik, nicht nur zwischen einzelnen Ländern, sondern auch innerhalb eines Landes, wo die Positionen je nach Ministerium und sogar innerhalb der Abteilungen ein und derselben Behörde auseinandergehen. Trotz dieser Unterschiede und Schwierigkeiten ist es angesichts ihrer politischen Auswirkungen von großer Bedeutung, sich über Wesen und Ziele der westlichen MB klar zu werden. Sollten zum Beispiel westliche Regierungen beim Islamunterricht an öffentlichen Schulen mit MB-nahen Organisationen zusammenarbeiten, die in einigen Ländern über eine größere und besser organisierte Lehrerschaft als andere muslimische Organisationen verfügen? Kommen sie für westliche Regierungen als Partner bei der Ausbildung und Auswahl von Seelsorgern für den Strafvollzug, in den Streitkräften oder in ähnlichen Einrichtungen in Frage? Sollten sie Partner einer staatlichen Strategie zur Bekämpfung von Terrorismus und Radikalisierung werden?

Die Muslimbruderschaft als Partner des Staates?

Diese Fragen sind stark miteinander verwoben und werden dadurch noch komplizierter. Der erste Schritt zur Festlegung einer kohärenten Politik besteht offensichtlich darin, zu verstehen, wie die Muslimbruderschaft im Westen funktioniert, woran sie glaubt und was sie will – und zuvor noch, was sie ist.

Eine Kategorisierung von MB-Akteuren im Westen

Eine der größten Herausforderungen im Zusammenhang mit der MB im Westen besteht darin, Organisationen und Personen mit der Bewegung in Verbindung zu bringen. Beobachter und Verantwortliche haben ausgiebig darüber debattiert, ob die von den Pionieren der MB und deren Nachfolgern aufgebauten Organisationen – die vor Jahrzehnten gegründet wurden und zunehmend von einer zweiten Generation meist im Westen geborener Personen geführt werden – als Teile der MB angesehen werden sollten.[10] Erschwerend kommt hinzu, dass die meisten mit der MB in Verbindung stehenden Akteure im Westen im Bewusstsein der Stigmatisierung, die sich aus einer möglichen Verbindung zur Muslimbruderschaft ergeben kann, üblicherweise große Anstrengungen unternehmen, solche Verbindungen herunterzuspielen oder zu verheimlichen.

Verbindungen zur Bruderschaft werden heruntergespielt.

Die Begrifflichkeiten können in der Tat täuschen, und die Bezeichnung „Muslimbruderschaft“ kann im Westen ebenso wie im Nahen Osten verschiedene Bedeutungen haben. Obwohl sicherlich auch andere Kategorisierungen möglich sind, wird hier vorgeschlagen, den Begriff „Muslimbruderschaft“ auf drei getrennte, aber miteinander verbundene Akteursgruppen (mit abnehmender Anbindung) anzuwenden: Kern-MB, Ableger der MB sowie MB-beeinflusste Akteure.

Drei unterschiedliche aber verbundene Akteursgruppen

Kern-MB

Den Kern der MB im Westen bilden die verdeckt bzw. geheim operierenden Netzwerke, die hier von Angehörigen der nahöstlichen Zweige der MB gegründet wurden. In allen westlichen Ländern hat die erste Generation der aus der arabischen Welt stammenden Pioniere Strukturen aufgebaut, die – wenn auch im wesentlich kleineren Maßstab – jene in den Herkunftsländern widerspiegeln. Als diese Pioniere in de facto jedem westlichen Land einen kleinen Ableger der Bruderschaft aufbauten, duplizierten sie hier das traditionelle System der selektiven Anwerbung, der formellen Aufnahme, der kostenpflichtigen Mitgliedschaft und der pyramidenförmigen Struktur. Diese Struktur reicht von der Usra, der Kerngruppe einer Handvoll Aktivisten, die sich wöchentlich auf lokaler Ebene treffen, bis zu einer gewählten Führungsspitze, welche die Aktivitäten im jeweiligen Land leitet. Diese Struktur wird streng geheim gehalten und von der westlichen MB vehement bestritten (oder in manchen Fällen als überholte Vorstellung dargestellt). Sie bildet nach wie vor die tragende Säule der Bruderschaft im Westen.

Kleine Kerngruppen

Aufschlussreiche Details über diese nichtöffentliche Struktur liefert Kamal Helbawy, ein seit über 60 Jahren aktiver und äußerst populärer Islamist und eines der ältesten Mitglieder der MB, das jemals im Westen tätig war.[11] „There are different types of [MB] organizations in the West.” erklärt Helbawy, „there are organizations purely for Ikhwan [MB], and maybe no one will know about the name, or know about the essence.” Um das Innenleben dieses Kerns zu beschreiben, zeichnet Helbawy das Bild einer formellen Struktur, die – wenn auch in kleinerem Maßstab – der Organisationsstruktur der MB in Ägypten oder anderen nahöstlichen Ländern ähnelt. „The first unit or block is the Usra, a group of five to ten people, either living in a neighborhood or working in the same mission, orientation: engineers, doctors. […] Exactly like in Egypt, also in the West ten Usras come together under one leadership and they have certain programs. […] And then you have the executive local unit that takes administration of that area, and then you have the, you can say the local Shura of this region.”[12]

Wegen der relativ geringen Anzahl von Muslimbrüdern in den westlichen Ländern wird diese Struktur natürlich nicht immer genau nachgebildet. Helbawy, der jahrzehntelang eine zentrale Figur im britischen MB-System war, schätzt, dass die Zahl der „aktiven Ikhwan“ in Großbritannien (also vereidigte Mitglieder, die in das Usra-System eingegliedert sind) zwischen sechshundert und tausend Personen liegt. In den meisten anderen westlichen Ländern dürfte diese Zahl noch deutlich geringer sein.

Ableger der MB

Ableger der MB sind hingegen sichtbare bzw. öffentliche Organisationen, die von Personen gegründet werden, die zur „Kern-MB“ gehören. Wie schon erwähnt, bauten die Muslimbrüder im Westen mit der Zeit ein weites Netz von Gliedern mit einem breiten Spektrum an Aktivitäten auf. Keine dieser Organisationen bezeichnet sich öffentlich als strukturell irgendwie mit der MB verbunden (allenfalls in rein historischer oder weltanschaulicher Hinsicht). In Wirklichkeit jedoch sind diese Organisationen die Kehrseite jener Medaille, deren Vorderseite die Kern-MB darstellt. Sie bilden das öffentliche Gesicht des geheimen Netzwerks und den Teil, der die Agenda der Gruppe in der Gesellschaft vorantreibt, ohne die verdeckt operierende Struktur der Kern-MB offenzulegen.

Große Organisationen im Umfeld

Wie erwähnt, haben die westlichen Muslimbrüder die geheime Struktur der nahöstlichen MB-Gruppen repliziert. Sie schufen aber auch ein weites Netz verschiedenartiger, von ihnen kontrollierter Organisationen, die nicht unmittelbar mit der Bruderschaft in Verbindung gebracht werden können. Die Schaffung dieser Doppelstruktur beruht auf der Überzeugung, dass Organisationen, die nicht direkt mit der Gruppe in Verbindung gebracht werden können, effektiver mit muslimischen Gemeinschaften und mit der westlichen Gesellschaft in Kontakt treten können.

Schaffung einer Doppelstruktur

Mangels einer formellen Zugehörigkeit und weil sich die westlichen MB-Ableger bewusst darum bemühen, ihre Verbindungen zur Bruderschaft herunterzuspielen oder zu leugnen, ist es schwierig, eine bestimmte Organisation als einen solchen Ableger zu identifizieren. Dennoch gibt es eine Reihe von Indikatoren, die zwar nicht zwingend sind, in ihrer Häufung allerdings Aussagen darüber zulassen, ob eine bestimmte Organisation in diese Kategorie einzuordnen ist. Hierzu gehören die Geschichte der Organisation, kontinuierliche Kontakte ihrer Gründer und Hauptaktivisten zu Angehörigen und Organisationen der MB im In- und Ausland, die konsequente Verwendung von Texten und Literatur der MB, engere finanzielle Verbindungen zu anderen Strukturen und Geldgebern der MB sowie eine beständige formelle oder informelle Beteiligung an transnationalen Initiativen und Organisationen der MB.

Indikatoren der Zuordnung

Organisationen unter Einfluss der MB

Organisationen, die unter dem Einfluss der MB stehen, sind schließlich solche, die zwar eine deutlich von der Organisation beeinflusste Weltanschauung vertreten, aber keine klaren operativen Verbindungen zu ihr unterhalten. Einflüsse der MB können sich hier zum Beispiel in der Zusammensetzung des Vorstandes, in den Finanzierungsquellen der Organisation oder in ideologischen Einflüssen zeigen. Organisationen, die zu dieser dritten Kategorie zählen, können allerdings auch Mitglieder mit völlig anderen Hintergründen in ihren Reihen haben (einschließlich Nicht-Islamisten und sogar Nicht-Muslime), sie können sich an fortschrittlichen Neuauslegungen des klassischen islamistischen Denkens beteiligen und sogar versuchen, sich dem Einfluss der MB zu entziehen.

In dem bereits zitierten Interview erklärt Helbawy hierzu, „There are other organizations, especially in the field of welfare and relief organizations, that are run by [the] Muslim Brotherhood […] and can involve Muslim Brothers and non-Muslim Brothers.“ Viele Personen, die in diesen Organisationen, zum Teil sogar in leitenden Positionen, tätig sind, sind keine Mitglieder der MB, haben in den meisten Fällen keine Kenntnis von Verbindungen zur MB und würde diese dementsprechend vehement und aufrichtig bestreiten.[13] Die zahlenmäßig relativ geringe Präsenz von Vertretern der MB in diesen Organisationen, so Helbawy, schmälert jedoch nicht ihren Einfluss, den sie dank der Kontrolle von Leitungsgremien und weiterer Taktiken stets bewahren. Gleichzeitig ist die Präsenz von Personen – oft in sehr herausgehobener Position –, die eindeutig nicht der MB angehören, für die Bruderschaft von Vorteil, weil sich dadurch der Vorwurf, diese Organisationen seien Teil der MB, schwer aufrechterhalten lässt.

Glaubhafte Distanzierung von Mitarbeitern

Diese dreiteilige Kategorisierung kann nicht alle Ausprägungen und Nuancen erfassen, welche die mit der MB verbundenen Organisationen ausmachen. Brigitte Marechal drückt es folgendermaßen aus: „[w]hat makes the Brotherhood so complex is that it consists of various types of superimposed structures, some of them evolving out of the local European situation, while others trace their history back to the organisation’s country of origin.”[14] Die Verschwiegenheit der Bewegung macht die meisten Bemühungen um ein Verständnis ihres Innenlebens und das ihrer Ableger zu einer Herausforderung. Kennzeichnend ist außerdem eine gewisse Flexibilität. Tatsächlich ist es nicht ungewöhnlich, dass Organisationen und Einzelpersonen den Grad ihrer persönlichen, strukturellen und ideologischen Verbindung zur MB erhöhen oder verringern und damit von einer der hier definierten Kategorien in die andere wechseln.

Verschwiegenheit und Flexibilität

Trotz dieser Einschränkungen kann die hier vorgestellte Kategorisierung helfen, Orientierung in eine Debatte zu bringen, die oft durch zwei vereinfachende Extrempositionen polarisiert wird: einerseits der Behauptung, es gebe – abgesehen von ein paar isolierten Aktivisten – keine Muslimbruderschaft im Westen und andererseits der Sichtweise, dass jede Organisation, die gewisse Einflüsse der MB aufweise, auch zur Muslimbruderschaft gehöre.

Unabhängige Zweige der Bruderschaft im Westen

Bedauerlicherweise wird eine substanzielle Debatte über Personen oder Gruppen, die mit der MB in Verbindung stehen, oftmals von Fragen der Zuweisung und Identifizierung behindert. Üblicherweise werfen Kritiker einer Person oder einer Organisation Verbindungen zur Muslimbruderschaft vor, die der oder die Betroffene als unbegründet zurückweisen. Nicht selten führt dies zu juristischen Auseinandersetzungen. Obwohl sich das Verleumdungsrecht von Land zu Land unterscheidet und der Ausgang eines Prozesses von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst wird, kommt es für den Ausgang dieser Verfahren ganz entscheidend auf die Wortwahl an, mit der eine Verbindung zur Bruderschaft behauptet wird.

Schuldzuweisungen und Verleumdungsklagen

Präziser gesagt, bewegen sich Vorwürfe einer Verbindung zur MB innerhalb eines Spektrums. Auf der einen Seite dieses Spektrums befinden sich Aussagen, mit denen Kritiker einem bestimmten Individuum oder eine Organisation starke bzw. direkte Verbindungen zur Muslimbruderschaft vorwerfen („Individuum X ist Mitglied der Muslimbruderschaft“, „Organisation Y gehört zur Muslimbruderschaft“). Am entgegengesetzten Ende des Spektrums finden sich nuanciertere Aussagen, die lediglich von einer Verbindung zur Bruderschaft sprechen, ohne eine Art formelle Mitgliedschaft zu behaupten („Person X hat Verbindungen zum Netzwerk der Bruderschaft“, „Organisation Y gehört zum Umfeld der Bruderschaft“).

Unabhängig von der jeweiligen Formulierung basieren Vorwürfe von MB-Verbindungen oft auf angeblichen Kontakten zwischen den betreffenden Personen oder Organisationen und der Muslimbruderschaft im Nahen Osten. Tatsächlich ist die Frage nach solchen Verbindungen äußerst komplex. Einerseits ist offensichtlich, dass beim Aufbau von MB-Gruppen im Westen viele Strukturmerkmale der nahöstlichen Mutterorganisationen übernommen oder nur geringfügig geändert wurden. Noch heute sind Struktur und Innenleben der oben definierten Kern-MB im Westen beinahe identisch mit denen der Mutterorganisationen in der arabischen Welt.

Allerdings bedeutet diese Übernahme von Strukturmerkmalen keine Unterordnung. Tatsächlich sind die im Westen entstandenen MB-Netzwerke mit der Zeit immer unabhängiger von ihren nahöstlichen Vorbildern geworden. Zwar blicken die europäischen Muslimbrüder zu den wesentlich älteren, größeren und besser organsierteren nahöstlichen Netzwerken auf und stehen mit ihnen in ständigem Austausch. Dies bedeutet aber nicht, dass europäische MB-Akteure regelmäßig strategische Anweisungen oder Zielvorgaben aus dem Nahen Osten erhalten. Tatsächlich erscheint es zutreffender, sie als unabhängige Juniorpartner einer globalen Familie zu bezeichnen.

Juniorpartner einer globalen Familie

Diese Sichtweise ist für die Frage der Zuschreibung von erheblicher Bedeutung. Sie macht deutlich, dass die Debatte über die Frage, ob eine muslimische Organisation im Westen „zur Bruderschaft gehört“, oft auf falschen Vorstellungen beruht. In vielen Fällen wird eine solche Debatte auf der Grundlage von Verbindungen dieser Organisation zur MB in Ägypten oder anderswo im Nahen Osten geführt. Der Vorwurf, eine bestimmte Organisation sei mit der Bruderschaft verbunden oder „Teil der Muslimbruderschaft“, bezieht sich dann in der Regel auf eine angenommene Zu- oder Unterordnung zu einem Zweig der MB im Nahen Osten. Dementsprechend betonen Stimmen, die eine Verbindung der betreffenden Organisation zur Bruderschaft abstreiten, deren Unabhängigkeit von Kairo oder im weiteren Sinne vom Nahen Osten.

Die Realität der MB im Westen ist komplexer. Zweifellos sind die Verbindungen zur Mutterorganisation im Nahen Osten ein wichtiger Indikator. Das Vorhandensein oder Fehlen solcher Verbindungen ist aber kein hinreichender Beleg dafür, dass eine Organisation als „Muslimbruderschaft“ bezeichnet werden kann oder nicht. Vielmehr zeigt sich, dass in den letzten Jahrzehnten in den meisten westlichen Ländern kleine Gruppen von Angehörigen der Bruderschaft, die ursprünglich aus dem arabischen Raum stammen (die Zahl dieser Kernaktivisten liegt in den meisten europäischen Ländern bei wenigen hundert), unabhängige MB Strukturen schufen. Diese Strukturen spiegeln zwar jene der Mutterländer wider, sind aber in vielen Fällen unabhängig. Es gibt also eine französische, eine schwedische und eine britische MB, genauso wie es eine ägyptische, jordanische und eine syrische gibt.

Distanzierung von den nahöstlichen Mutterorganisationen

Ob eine Organisation mit Sitz in einem westlichen Land zur MB gehört, lässt sich daher nicht unbedingt durch Aufdeckung möglicher (aber meist schwacher Verbindungen) zu einem nahöstlichen Land bestimmen. Vielmehr lässt sich eine solche Feststellung eher durch die Beurteilung der Frage treffen, ob diese Organisation direkt dem Zweig der Bruderschaft des jeweiligen westlichen Landes entstammt oder zuzuordnen ist. Die Aussage, dass diese Organisationen und Strukturen unabhängig seien und „keine Befehle aus Kairo erhielten“, wäre dann zutreffend. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie keine MB-Organisation wären.

Diese Sichtweise wird von Vertretern der Bruderschaft selbst bestätigt. Mohammed Akef hat in einem Interview klar beschrieben, inwieweit die Bruderschaft über Formalitäten wie eine offizielle Zugehörigkeit hinausgeht. „Nous n’avons pas une organisation internationale. Nous avons une organisation à travers notre perception des choses. […] Partout, il y a des gens qui croient dans la pensée des Frères musulmans. En France, l’Union des organisations islamique de France (UOIF) n’appatient pas à l’organisation des Frères. Même si elle suit ses lois et ses règles.”[15] An anderer Stelle bekräftigte Akef, dass die europäischen MB-Organisationen keine direkte Verbindung zum ägyptischen Zweig hätten, sich aber mit ihm abstimmten: „Ces organisations et institutions sont indépendantes et autonomes. Nous ne les contrôlons pas. Ce sont les Frères à l’étranger qui dirigent ces organisations. […] [M]ais nous avons tendance à ne pas faire de distinction entre eux.”[16]

Autonom aber zugehörig

Schlussfolgerungen

Das vorliegende Papier hat einen Analyserahmen zur begrifflichen Einordnung und Kategorisierung von MB-Aktivitäten und MB-Organisationen im Westen aufgezeigt. Die wichtigsten Ergebnisse sind folgende:

Eine klare Kennzeichnung ist problematisch

Die hier vorgeschlagene Kategorisierung kann aber einen Maßstab bieten, an dem sich die Intensität der Anbindung einzelner Organisationen an die Netzwerke der MB ablesen lässt. Tatsächlich ist es sehr schwierig, einzelne Personen als „echte“ Muslimbrüder zu identifizieren. Anders als im Falle von MB-Aktivisten im Nahen Osten, die in der Regel offen mit einer solchen Zuschreibung umgehen, nehmen westliche Vertreter eine solche Selbstverordnung meist nicht vor bzw. weisen sie zurück. Es ist daher in vielen Fällen nicht zielführend, eine bestimmte Person ohne stichhaltige Belege als „Mitglied der Muslimbruderschaft“ zu bezeichnen. Tatsächlich sind viele Personen, die in Netzwerken der MB aktiv sind, keine vollwertigen Mitglieder im klassischen Sprachgebrauch. Wie gesehen, ist dieser Status einer kleinen Elite vorbehalten. Eine stärker differenzierende Terminologie, wie z. B. die Bezugnahme auf „(mehr oder weniger enge) Verbindungen zum Umfeld der Muslimbruderschaft“, erscheint daher angemessener.

Zuschreibungen sind oft unpräzise

Terminologische Sorgfalt ist angeraten

Dies gilt vor allem bei Organisationen, die zur zweiten und dritten Kategorie gehören. Ableger der MB oder Organisationen unter Einfluss der MB als „Organisationen der Muslimbruderschaft“ zu bezeichnen, ist zwar nicht prinzipiell falsch, aber aus den oben geschilderten Gründen oft unpräzise und anfechtbar. Wenn man davon ausgeht, dass die Organisation die oben skizzierten Kriterien erfüllt (enge und beständige organisatorische, persönliche und finanzielle Einbindung an das Netzwerk der Bruderschaft), erscheint es zielführender, sie als „dem Umfeld der Muslimbruderschaft nahestehend“ oder „eng mit den Netzwerken der Muslimbruderschaft verbunden“ zu bezeichnen.

Verbindungen in den Nahen Osten sind nicht entscheidend

Historische und aktuelle Verbindungen zu Zweigen der MB in Ägypten oder in anderen arabischen Ländern sind zwar zweifellos ein wichtiges Element bei der Einschätzung der MB-Nähe einer europäischen Organisation, aber sie sind kein hinreichendes Kriterium. Heute gibt es in den meisten westlichen Ländern Zweige der Bruderschaft, die – wenn auch in weitaus kleinerem Maßstab – jene des Nahen Ostens kopieren. Das Verhältnis zum jeweiligen Zweig der Kern-MB im Heimatland und nicht eventuelle Beziehungen zu nahöstlichen MB-Gruppierungen ist das entscheidende Kriterium bei der Beurteilung, ob eine europäische Organisation dem Umfeld der MB angehört.

Die Muslimbruderschaft als westliches Phänomen

Offenheit fördert die Debatte

In vielen Fällen könnte eine offene und ehrliche Selbstverortung MB-naher Organisationen die von Verdächtigungen und Vermutungen geprägte Debatte entschärfen. Viele Probleme würden einfacher lösbar, wenn Personen und Organisationen, die mit der Bruderschaft verbunden sind, diese z.T. offensichtlichen engen und historischen Bezüge anerkennen und sowohl die organisatorischen als auch ideologischen Aspekte dieser Verbindungen offenlegen würden. Anders als in einigen arabischen Ländern wird die MB in Europa nicht als terroristische Organisation eingestuft – und eine solche Einstufung wäre auch nicht sinnvoll.

Vorwürfe von Undurchsichtigkeit und Täuschung entkräften

Eine offene Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte und Ideologie würde die teilweise ohnehin schon starke Kritik an den europäischen Ablegern und Netzwerken der MB zweifellos weiter erhöhen. Aber anders als in Ländern wie Syrien oder Ägypten wäre eine solche Debatte nicht existenzbedrohend. Vielmehr könnten diese Personen und Organisationen durch eine Aufgabe ihrer Weigerung, das in vielen Fällen Offensichtliche zuzugeben, Vorwürfe der Doppelzüngigkeit und Undurchsichtigkeit entkräften und damit dazu beitragen, von staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren als ehrlichere Gesprächspartner anerkannt zu werden. Statt mit Begrifflichkeiten und Zuordnungen könnte sich die Debatte dann mit wichtigeren Fragen, wie etwa den Zielen und Botschaften der Muslimbruderschaft beschäftigen.

Dieses Papier basiert auf langjähriger Forschungsarbeit des Verfassers zu diesem Thema und fasst einige der Ergebnisse seines Buches „The Closed Circle: Joining and Leaving the Muslim Brotherhood in the West“ (Columbia University Press, März 2020) zusammen.

 

Dieser Beitrag erschien am 17. März 2020 als Erstveröffentlichung auf kas.de

Fußnoten

Fußnoten
1 So der Präsident des NRW-Verfassungsschutzes, Burkhard Freier, im Interview mit der FAZ vom 11. November 2019, S. 15.
2 Verfassungsschutzbericht Nordrhein-Westfalen, Jahresbericht 2018, S. 221.
3 Zur Bewertung der jüngsten Veränderungen innerhalb des ägyptischen Zweigs der MB vgl. Ranko, Annette/Yaghi, Mohammad: Organizational Split and Radicalization Within Egypt’s Muslim Brotherhood, Policywatch No. 3089, The Washington Institut for Near East Policy, 4. März 2019.
4 Vgl. hierzu Fradkin, Hillel: The History and Unwritten Future of Salafism, in: Current Trends in Islamist Ideology, Vol. 6, 2008, S. 5ff.
5 Vgl. das Interview mit Akef in Asharq Al-Awsat vom 11. Dezember 2005.
6 Yussuf Nada, Interview mit dem Verfasser, Juli 2008 in Campione d’Italia sowie Abd El Monem Abou El Fotouh, Interview mit dem Verfasser, Dezember 2008 in Kairo.
7 Vgl. Marechal, Brigitte: The Muslim Brothers in Europe. Roots and Discourse, Leiden 2008, S. 56-82.
8 Diese Position findet sich bei Roy, Olivier: Secularism Confronts Islam, New York 2007, S. 94-98.
9 Der Begriff „trojanisches Pferd” in Bezug auf die MB wurde beispielsweise von dem britischen Politiker Michael Gove verwendet. Vgl. Gove, Michael: Celsius 7/7, London 2006, S. 84-113
10 Vgl. hierzu beispielsweise Bakker, Edwin/Meijer, Roel: The Muslim Brotherhood in Europe, Oxford 2013 sowie El Karaoui, Hakim: La Fabrique de l’Islamisme, Institute Montaigne, September 2018.
11 Die Interviews des Verfassers mit Kamal Helbawy fanden im Mai und Dezember 2017 in London statt. Die Interviews bilden das Gerüst des Kapitels über Helbawy im Buch des Verfassers.
12 Vgl. Interview des Verfassers, ebd.
13 Dementsprechend schreibt Petersen zu den islamischen Hilfsorganisationen Islamic Relief und Muslim Aid (einer in Großbritannien ansässigen und von der islamistischen Jamaat-e-Islami beeinflussten Wohltätigkeitsorganisation): „While the boards of trustees is by and large unchanged, and many first generation staff members have remained in the organisation, in recent years, both Islamic Relief and Muslim Aid have increasingly incorporated a new generation of staff. First of all, and contrary to the older generation, many of the new staff members have relevant development education and experience. Some have a degree in development studies, others in e.g. journalism, nutrition, politics, or sociology. […] They work in Islamic Relief and Muslim Aid, because they want to work in a development NGO, not because they want to work in a religious organisation.” Vgl. Petersen, Marie Juul: For Humanity or for the Umma? Ideologies of Aid in Four Transnational Muslim NGOs, thesis, University of Copenhagen, 2011, S. 169. Sie fügt auch hinzu, dass einige Mitarbeiter bei Islamic Relief keine Muslime sind.
14 Maréchal, Brigitte: The European Muslim Brothers’ Quest to Become a Social (Cultural) Movement,” in: Bakker/ Meijer 2013, S. 91.
15 Zit. nach Ternisien, Xavier: Les Frères Musulmans, Paris 2005, S. 110.
16 Zit. nach Besson, Sylvain: La Conquête de l’Occident, Paris 2005, S. 100.
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