Der Radikale, der Unbeugsame, der Unvollendete, der Widersprüchliche der Rätselhafte – es fehlt in den Medien wahrlich nicht an Metaphern für den verstorbenen Papst Franziskus und sein bewegtes Pontifikat. Doch was bleibt nach diesen aufregenden Jahren, in denen es an Konflikten, Krisen und Kriegen wahrlich nicht fehlte, unterm Strich? Was ist das Erbe, das Franziskus politisch und diplomatisch auf internationaler Bühne hinterlassen hat? Worauf kann ein Nachfolger aufbauen, wo bedürfte es eines Kurswechsels? Auch darüber werden die Kardinäle beraten müssen. Michael Feth und Dr. Nino Galetti versuchen sich an einer ersten Bilanz.
Wochenlang waren die journalistischen Beobachter im Ausnahmezustand, als Papst Franziskus in der Gemelli-Klinik um sein Leben rang. Der Zustand des Patienten, der zweimal wiederbelebt werden musste, verbesserte sich. Schließlich kehrte er nach fünf langen Wochen heim in seine Residenz im Vatikan. Es folgten einige, wenn auch kurze Auftritte, die Mut machten. Am Ostersonntag schließlich der traditionelle Segen „Urbi et Orbi“. Mit Spannung wurde sein Auftritt erwartet. Mit letzter Kraft und heiserer Stimme sprach er die Segensformel. Aber immerhin – er tat es. Dann folgte eine unerwartete Zugabe: Mit dem Papamobil ließ er sich anschließend kreuz und quer durch die Massen auf dem Petersplatz fahren. Niemand konnte zu dem Zeitpunkt ahnen, dass dieser Auftritt ein Abschied für immer von seiner Herde, vom Volk Gottes sein würde. Nur 18 Stunden später war Franziskus tot.
Der Oberhirte der katholischen Kirche starb, wie er gelebt hatte: Er verausgabte sich bis zuletzt – getreu seinem Wappenspruch „Miserando atque Eligendo“; Erbarmen bis zur Selbstaufgabe. Sein Pontifikat, so anders, so radikal, so widersprüchlich, so stürmisch, hinterlässt in Kirche und Welt tiefe Spuren. Dabei sind Päpste immer auch Weltpolitiker. In diese Rolle hineinzufinden, tat sich Franziskus jahrelang schwer. Er war in erster Linie Seelsorger, verstand sich als „Dorfpfarrer der Welt“. Politik fasste er lieber mit der Beißzange an. Und wenn nicht, war er stets in Gefahr, sich aufgrund seiner farbkräftigen Sprache im Ton zu vergreifen. Das sollte sich erst allmählich ändern. Was hinterlässt Franziskus in der internationalen Diplomatie?
Um es vorwegzunehmen: Die Bilanz ist gemischt. Die westliche Welt galt dem „Papst der Peripherien“, der im peronistischen Argentinien sozialisiert wurde, oftmals als Hort der Dekadenz, der Gottesferne, des puren Hedonismus, der wirtschaftlichen Kälte und der kulturellen Hegemonie. Als Südamerikaner hegte er ein angeborenes Misstrauen gegenüber Freiheitlichkeit und Markwirtschaft, gewürzt mit einem kräftigen Schuss Anti-Amerikanismus. Seine Erfahrungen mit der Trump-Präsidentschaft waren kaum angetan, seine Meinung zu ändern.
Ausgerechnet Europa ist ihm, dem Karlspreisträger, eigenartig fremd geblieben. Es begann in den ersten Jahren seines Pontifikats mit dem unglücklichen Ausspruch von Europa als der „unfruchtbaren Großmutter“. Missverständnisse häuften sich. Er hielt dem heutigen Europa den Spiegel vor: Entchristlichung, Zurückdrängung der Religion ins Private, humanitäre Gleichgültigkeit, wachsende Diskrepanz zwischen Arm und Reich, Profitgier und „neo-koloniale“ Ausbeutung der Dritten Welt durch unfaire Handelsabkommen. Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Bei manchen Punkten kann man Franziskus zweifellos Recht geben; er verstand es eben, den Finger in die Wunde zu legen.
Mahner Europas
In mehreren Grundsatzreden (wie zuletzt auf seiner Ungarn-Reise 2023) wandte er sich entschieden gegen Populisten in den EU-Ländern, die Europa „in Geiselhaft nehmen und zu ihrer Beute machen“. Ebenso warnte Franziskus vor Tendenzen zur Auflösung der nationalen Eigenheiten der Völker Europas. Europa dürfe nicht in einen „abstrakten Supranationalismus verfallen und sich zu einer flüssigen oder sogar gasförmigen Realität verwandeln“. Mit Nachdruck geißelte der Pontifex immer wieder die ideologische Gleichmacherei, die in der umstrittenen Gender-Kultur zum Ausdruck kommt. Als Beispiel führte er das in seinen Augen „widersinnige Recht auf Abtreibung“ an, das „als angebliche Errungenschaft angepriesen würde und einen Gegensatz zwischen einem verengten Freiheitsbegriff und der Realität des Lebens schafft“. Man darf ihm zugutehalten, dass seine Stimme bei vielen Themen gehört wurde und in der europäischen Öffentlichkeit eine größere Sensibilität bewirkte.
Anwalt der Migranten
Besonders deutlich wird dies beim Thema Migration. Wohl kein anders Thema trieb den verstorbenen Papst derart um. Während in den europäischen Hauptstädten der politische Streit um Flüchtlinge hauptsächlich vor dem Hintergrund der Furcht vor ungebremstem Zustrom diskutiert wird, sprach, mahnte und kritisierte Franziskus hier immer aus der Warte des Hirten und Anwalt der Menschlichkeit. Schon mit seiner ersten Kurzreise nach seiner Wahl zum Papst auf die Insel Lampedusa hatte er ein einprägsames Zeichen gesetzt: Es handelt sich, so mahnte er stets aufs Neue, bei den ertrunkenen Menschen um konkrete Personen mit ihren Sehnsüchten, Träumen, Tragödien und Ängsten, nicht um namenlose Nummern. Dieser Linie blieb er treu bis zuletzt und wurde zum heftigsten Gegenspieler der Rechtspopulisten und Fremdenfeinde in Europa.
Erst in den letzten Jahren ließ er bei der ein oder anderen Äußerung erkennen, dass es bei der Aufnahme auch natürliche Grenzen der Überlastung gäbe. Es gibt durchaus nachdenkliche Beobachter, die meinen, Franziskus habe mit seinem moralischen Diktat beim Thema Migration den Aufstieg des Populismus befördert. Andere halten dagegen: Gerade dieses Wählerpotential würde sich um Papstworte wenig scheren. Fest steht: Viele Regierungen und Spitzenpolitiker in Verantwortung, denen er immer wieder ins Gewissen redete, hatten an diesem Punkt ihre Schwierigkeiten mit dem Oberhaupt der katholischen Kirche.
Gescheiterter Vermittler
Den Freiheitsdrang insbesondere der Mittel- und Osteuropäer hat Franziskus nicht immer richtig eingeschätzt. Aus einem Land stammend, dass zwar schlimme Erfahrung mit einer Diktatur, aber nie mit einem marxistischen Regime oder der Unterdrückung durch fremde Großmächte gemacht hat, konnte er die Ängste der Polen oder der Balten vor den neo-imperialistischen Expansionsbestrebungen Wladimir Putins kaum verstehen. In einer der schlimmsten politischen Krisen Europas seit dem Zweiten Weltkrieg, dem Einmarsch Russlands in die Ukraine, unterlag er massiven Fehleinschätzungen, die den Vatikan als diplomatischen Vermittler Glaubwürdigkeit kostete. Über die wahre Natur des Kreml-Regimes machte er sich lange Illusionen. Eine klare Verurteilung Russlands als Aggressor hat er lange vermieden. Nachdem ihn Putin mehrfach auflaufen ließ, suchte er im ersten Kriegsjahr stattdessen den Kontakt zum Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, dem Moskauer Patriarchen Kyrill.
Der Versuch einer gemeinsamen Initiative, die Waffen zum Schweigen zu bringen, war zum Scheitern verurteilt. Es handelt sich beim Patriarchen eben nicht um einen Kirchenführer auf Augenhöhe, um einen Hirten der Menschen, sondern um eine Schachfigur auf Putins großem Brett. Ausgerechnet dem Opfer in dem Konflikt war der Pontifex mit seiner diplomatischen Äquidistanz zu Moskau und Kiew keine Hilfe. Sein Verhältnis mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj blieb kühl, man segelte haarscharf an einem diplomatischen Eklat vorbei. Bei der Bevölkerung der Ukraine landete sein Ansehen auf einem Tiefpunkt. In Kiew dürfte man nun auf einen Neuanfang mit einem neuen Papst hoffen.
Versöhner mit dem Islam
Für Stirnrunzeln – selbst unter vatikanischen Diplomaten – sorgte der Umstand, dass Franziskus oftmals ein blindes Auge gegenüber lateinamerikanischen Diktatoren hatte. Nicaragua, Venezuela, Bolivien, Peru – hier blieb seine Linie oftmals verschwommen, seine Kritik sanft. Oppositionelle aus diesen Staaten konnten nicht unbedingt auf Unterstützung des Heiligen Stuhls setzten. Klarer äußerte sich der Heilige Vater zur Menschenrechtslage in Myanmar und manchen Staaten Afrikas. Eine seiner größten Errungenschaften ist der Ausgleich mit Teilen der islamischen Welt. Das Grundlagenpapier von Abu Dhabi mit der gegenseitigen Anerkennung des Rechts auf freie Religionsausübung hat das Verhältnis Roms zur arabischen Welt nachhaltig entkrampft. Die gemeinsame Verurteilung von Terror, Mord und Krieg im Namen Gottes ist ein nicht zu unterschätzender Fortschritt auf dem Weg zu einer friedlichen Koexistenz der Religionen.
In seiner Enzyklika „Fratelli tutti“ über das friedliche Zusammenleben der Völker und Konfessionen gekräftigte Franziskus, dass Unterschiede bereichern und dass die Menschen trotz aller Konflikte Brüder und Schwestern sind: „Deshalb müssen wir aufeinander zugehen, Brücken statt Mauern bauen, den Krieg als Mittel zur Konfliktlösung aufgeben und uns dem Zuhören, dem Dialog und der Diplomatie zuwenden.“ Arabische Staatschefs, Monarchen und islamische Geistliche gehen im Vatikan wie selbstverständlich ein und aus. In manchen ethischen Fragen, wie Abtreibung oder künstliche Geburtenkontrolle, liegen die Positionen des Heiligen Stuhls und vieler islamischer Staaten näher aneinander als mit westlichen. Ist die Annäherung zwischen Christentum und sunnitischen Islam bemerkenswert vorangekommen, so ist dies mit den klerikal geprägten Schiiten ungleich schwieriger. Immerhin kam es auf der Irak-Reise des Papstes zu einer Begegnung mit der höchsten schiitischen Autorität, dem Groß-Ayatollah Ali as-Sistani. Wer auch immer Nachfolger auf dem Stuhl Petri wird: Beim Thema Ausgleich mit dem Islam kann er auf einem soliden Fundament aufbauen, dass Franziskus und seine Diplomaten gelegt haben.
Bewahrer der Schöpfung
Ein Feld, bei dem Europas politische Spitzen gerne die Rückendeckung des „grünen“ Papstes in Anspruch nahmen, ist die Klimapolitik. Ohne das Engagement von Franziskus bei diesem Thema hätte es vielleicht noch weniger Fortschritte gegeben. Mit seiner Enzyklika „Laudato Si“ war er der erste Pontifex, der ein Lehrschreiben zu Ökologie und Nachhaltigkeit verfasste, auf das sich die Klimaschützer in aller Welt heute berufen können. Die Bewahrung der Schöpfung ist in der katholischen Kirche somit auch theologisch in eine zentrale Position gerückt: „Die Klimaänderung ist ein globales Problem mit schwerwiegenden Umwelt-Aspekten und ernsten sozialen, wirtschaftlichen, distributiven und politischen Dimensionen; sie stellt eine der wichtigsten aktuellen Herausforderungen an die Menschheit dar. Das Klima ist ein gemeinschaftliches Gut von allen und für alle, aber die negativen Auswirkungen des Klimawandels fallen vor allem auf die Ärmsten zurück“, mahnte Papst Franziskus in diesem Dokument und warf den politisch Verantwortlichen vor, willentlich die Augen vor dem Drama zu verschließen. Der Papst, der die Welt wachrüttelte: Es war nicht zuletzt jene Art von Klartext, wofür ihn seine Herde liebte.
Dieser Beitrag erschien am 23.04.2025 als Erstveröffentlichung auf kas.de.
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