Der Hamburger Staatsvertrag als Modell für die Zusammenarbeit zwischen Staat und islamischen Religionsgemeinschaften

25. 09. 2023
Teilen:

Eine kritische Replik auf den im September 2022 erschienenen Blogbeitrag „Hamburger Vertrag mit muslimischen Verbänden“ von Murat Kayman.

Vor einiger Zeit veröffentlichte Murat Kayman einen Beitrag auf der Website der Experteninitiative Religionspolitik zum Hamburger Staatsvertrag mit den dortigen islamischen Religionsgemeinschaften bzw. wie der Autor es übertitelt, dem „Hamburger Vertrag mit muslimischen Verbänden“[1]. Genauer gesagt: Er beschäftigt sich mit der von der Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft (AIWG) veröffentlichten Expertise zum Hamburger Staatsvertrag aus Praxisperspektive.[2] Murat Kayman ist dabei nicht nur Publizist und Gründungsmitglied der Alhambra-Gesellschaft, sondern war als langjähriges Vorstandsmitglied von DITIB-Nord auch bei Abschluss des Staatsvertrages Mitglied der DITIB-Verhandlungskommission, wie er eingangs im Artikel selbst darlegt.

Angesichts dieses Hintergrundes verwundern seine teilweise fragwürdigen Aussagen und Einschätzungen. Seine zentrale Argumentation lautet, die in der Expertise enthaltenen Informationen untermauerten sein Argument, die muslimischen Verbände selbst hätten den Vertrag die vergangenen zehn Jahre ignoriert und den Gedanken der Fortentwicklung einer Zusammenarbeit sowie ihres religionsrechtlichen Status vernachlässigt. Leider zeugen die in seinem Blogbeitrag von ihm zitierten Punkte zur Untermauerung der These eines Rückwärtstrends mit Blick auf die Entwicklung islamischer Institutionen und der Kooperation von teils nachlässigen Aussagen.

Feiertagsregelung

In dem Blogbeitrag werden einfache Fakten, etwa zum Thema „Feiertagsregelung“, unzutreffend wiedergegeben. Die Behauptung Kaymans, die Feiertagsregelung im Staatsvertrag sei nie umgesetzt worden, weil die islamischen Religionsgemeinschaften unfähig seien, ihre Feiertage auf den Tag genau zu benennen, ist schlicht verkehrt. Das Gegenteil ist richtig. Seit es den Staatsvertrag gibt, benennen die islamischen Religionsgemeinschaften der Hamburger Schulbehörde einvernehmlich die genauen Daten für die gesetzlich anerkannten Feiertage Ramadanfest, Opferfest und Aschura. Die Schulbehörde veröffentlicht sie anschließend, wie auch die christlichen, jüdischen und alevitischen Feiertage veröffentlicht werden.[3] Hier schafft also schon eine einfache Internetrecherche Klarheit und in Hamburg ist dies gerade im Bereich der Schulen allgemein bekannt.

Religionsgemeinschaft

Auch hinsichtlich der Eigenschaft der Vertragspartner SCHURA Hamburg, DITIB-Nord und VIKZ als Religionsgemeinschaften wirft Kayman Nebelkerzen, was er schon in der Überschrift andeutetet, wo er diese als „muslimische Verbände“ tituliert. Dabei sind die Fakten auch hier klar: Erstens gelten die drei Vertragspartner in Hamburg als Religionsgemeinschaften, weil sie über den Staatsvertrag als solche de facto angenommen und behandelt werden und sollten entsprechend als solche für den Hamburger Kontext bezeichnet werden. Zweitens konnte der Staatsvertrag nur abgeschlossen werden, weil zuvor in einem rechtswissenschaftlichen und einem religionswissenschaftlichen Gutachten festgestellt wurde, dass die rechtlichen wie tatsächlichen Voraussetzungen einer Religionsgemeinschaft jeweils erfüllt werden,[4] was in der AIWG-Expertise ausführlich dargestellt wird.[5]

Wertegrundlagen

Die Auseinandersetzung um „gemeinsame Werte“ stellt sich schließlich weitaus komplexer dar, als Murat Kayman glauben machen möchte. Kayman unterschlägt, dass sich SCHURA Hamburg schon weit vor Aufnahme der Vertragsverhandlungen in einem eigenständig erarbeiteten Grundsatzpapier[6] zu eben jenen Werten bekannt hatte, die dann im Staatsvertrag unter dem Abschnitt „Gemeinsame Wertegrundlagen“ ähnlich niedergelegt wurden. Die Expertise stellt den Prozess der innermuslimischen Wertediskussion und ihr Ergebnis in den Vorjahren der Verhandlungen dar. Zudem führt sie Beispiele für kontroverse innermuslimische Diskussionen zu schwierigen Problemfällen an.

Unter dem Abschnitt der Expertise[7], die mit „Diskursive Reproduktion ausländischer Konflikte“ überschrieben ist, legt der Autor dar: Gerade in zugespitzten Konfliktlagen nehmen antidemokratische und antiplurale Sichtweisen und Diskurse aus Herkunftsländern Einfluss auf die muslimische Community in Deutschland und damit auch auf islamische Religionsgemeinschaften, wozu dann die Expertise Beispiele benennt, zugleich aber darauf hinweist, dass die Verständigung auf die innermuslimisch innerhalb der SCHURA festgelegten demokratischen Wertegrundlagen sowie die im Staatsvertrag gültigen Bestimmungen dazu beiträgt, kritikwürdige Entwicklungen innerhalb der Religionsgemeinschaften anzugehen.

In der aktuellen Frage des Umgangs mit dem Islamischen Zentrum Hamburg (IZH) beispielsweise ist in der Expertise angeführt worden, dass sich die SCHURA deutlich von der Demonstration zum Qudstag distanziert hat, jede Form von Antisemitismus verurteilt und auf das Islamische Zentrum eingewirkt hat, jegliche Beteiligung am Qudstag einzustellen, was schließlich auch erfolgte. Was nicht mehr in die Expertise aufgenommen wurde: Als es im Herbst 2022 im Iran zu dem Tod einer jungen Frau im Polizeigewahrsam kam, die gegen die dortigen Bekleidungsvorschriften verstoßen haben sollte, und zu wochenlangen Demonstrationen, ist es zu einer kritischen innerislamischen Auseinandersetzung mit der Haltung des Islamischen Zentrums in Hamburg gekommen, die darin mündete, dass das IZH im November 2022 – auch um einem drohenden Ausschluss zuvorzukommen – aus der SCHURA austrat. 

Angesichts dessen erscheint Kaymans Resümee nicht nachvollziehbar, wonach die SCHURA auf tatsächlicher Ebene eher dazu bereit sei, „das iranische Regime und seine Auslandseinrichtungen zu unterstützen“, womit er ihre Loyalität gegenüber Staatsvertrag und staatlichen Einrichtungen hierzulande infrage stellt. 

Gesellschaftliche Wirkungen

Es verwundert, dass Kayman mit seinem kritischen Beitrag zur Expertise zum Hamburger Staatsvertrag behaupten kann, der Staatsvertrag sei quasi nach seiner Unterzeichnung in der Schublade verschwunden und hätte keine Wirkungen entfaltet. Falls er die Expertise gelesen hat, wäre zumindest die Kommentierung der umfänglich darin dargelegten positiven Effekte für das Zusammenleben, für die Gestaltung wichtiger Bereiche und für die Herbeiführung von Rechtssicherheit in Hamburg angebracht gewesen. In der Expertise ist u. a. umfänglich dargestellt,[8] wie auf dem Staatsvertrag basierende Kooperationen die Weiterentwicklung des Hamburger Religionsunterrichts für alle ermöglichten. Zudem wurde im Anschluss daran vor Ort eine gemeinsame Bekämpfung von religiös begründetem Extremismus und Muslimfeindlichkeit, die Integration von Moscheen in die stadträumliche Planung, die Qualifizierung Hamburger Imame sowie die Zusammenarbeit in der Flüchtlingshilfe und die Lösung weiterer gesellschaftlicher Konflikte, die Errichtung des Instituts für Islamische Theologie des Fachbereichs Religionen an der Universität Hamburg usw. erleichtert. 

Derzeit läuft die Evaluation des Staatsvertrages, wie sie dort in Art. 13 Abs. 3 nach 10 Jahren vorgesehen ist. Die hierzu vom Hamburger Senat vorgelegte Stellungnahme[9] bietet einen guten Überblick, was in 10 Jahren in Hamburg im Kontext des Staatsvertrages geleistet wurde. Grundsätzlich wird darin festgestellt, der Vertrag hätte „eine über die deklaratorische Wiederholung religionsverfassungsrechtlicher Grundlagen hinausgehende integrative Anerkennungsfunktion, die für die Religionsgemeinschaften und ihre Mitglieder von herausragender Bedeutung“ sei.[10] Die Verträge mit den islamischen Religionsgemeinschaften sowie der Alevitischen Gemeinde würden einen wertvollen Beitrag zur Fortentwicklung der religionsverfassungsrechtlichen Beziehungen leisten und seien die Basis für kooperative Beziehungen von Politik und Verwaltung mit den Religionsgemeinschaften. [11]

Beauftragter bei Senat und Bürgerschaft

Irritiert war der Autor der AIWG-Expertise, Norbert Müller, über die Behauptung Kaymans, er sei wohl nie Beauftragter bei Senat und Bürgerschaft gewesen. Da er in der Expertise als solcher vorgestellt wird, wäre dies quasi das Führen eines falschen Titels bzw. einer unsachgemäßen Selbstbeschreibung. Eine einfache Rückfrage bei der Hamburger Senatskanzlei zwecks Bestätigung seiner Angaben brachte schnell Klarheit: Norbert Müller war durchaus von 2013 bis zu seinem Ausscheiden aus dem SCHURA-Vorstand im November 2021 als SCHURA-Beauftragter bei Senat und Bürgerschaft bekannt und nahm als solcher an einer Vielzahl von Terminen mit der Senatskanzlei sowie Vertreter*innen von Politik, Verwaltung und anderen Religionsgemeinschaften teil. Jedoch war in der Senatskanzlei auf Nachfrage bei den einzig zuständigen Personen die Anfrage eines Herrn Kayman und insbesondere die ihm angeblich erteilte Auskunft nicht bekannt.

Der Staatsvertrag trägt Früchte 

Aus Sicht des Autors ist eine deutliche und scharfe inhaltliche Kritik in einzelnen Sachfragen mit Bezug auf einzelne politische Missstände oder islamische Gemeinschaften notwendig und trägt im sachlich dargelegten Fall zur Behebung von Defiziten und zur besseren Entwicklung der islamischen Institutionen oder zur Lösung von Herausforderungen in der Religionspolitik bei. Doch die religiösen Akteure als legitimen gesellschaftlichen Akteur per se infrage zu stellen mit teilweise fragwürdigen Andeutungen und Schlussfolgerungen ist kontraproduktiv und schürt Misstrauen gegenüber muslimischen Akteuren in einer Zeit, in der die offene Auseinandersetzung mit wichtigen Fragen des Zusammenlebens und die Regelung von Belangen verschiedener Bevölkerungsgruppen in einer pluralen Gesellschaft dringend geboten ist. 

Fußnoten

Fußnoten
1 Siehe Kaymann, Murat: Der Hamburger Vertrag mit muslimischen Verbänden, 14.09.2022, unter: https://www.experteninitiative-religionspolitik.de/blog/der-hamburger-vertrag-mit-muslimischen-verbaenden/ (zuletzt abgerufen am 20.03.2023).
2 Siehe AIWG (Hrsg.): Das Verhältnis zwischen Staat und islamischen Religionsgemeinschaften. Der Hamburger Staatsvertrag aus Praxisperspektive, 2021, unter: https://aiwg.de/wp-content/uploads/2021/08/AIWG_Expertise-Staatsvertrag_Screen.pdf (zuletzt abgerufen am 20.03.2023).
3 Vgl. Behörde für Schule und Berufsbildung der Freien und Hansestadt Hamburg: Regelung zu religiösen Feiertagen (Schuljahr 2022/2023), 2022, unter: https://www.hamburg.de/contentblob/15174732/e0be9e5a8b409b993131e9d326f2fd37/data/regelungen-zu-religioesen-feiertage-fuer-das-schuljahr-2021-22.pdf (zuletzt abgerufen am 20.03.2023).
4 Klinkhammer, Gritt/de Wall, Heinrich: Staatsvertrag mit Muslimen in Hamburg, Bremen 2012.
5 Vgl. AIWG, Fn. 2, S. 18 f.
6 Siehe SCHURA: Grundsatzpapier der SCHURA Hamburg, o. D., unter: https://schurahamburg.de/grundsatzpapier/ (zuletzt abgerufen am 20.03.2023).
7 AIWG, Fn. 2, S. 30 ff.
8 AIWG, Fn. 2, S. 20 ff.
9 Vgl. Drucksache Nr. 22/10400 der Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg v. 13.12.2022.
10 Vgl. ebd. S. 8.
11 Vgl. ebd. S. 7.

Kommentare

Dieser Beitrag hat keine Kommentare.

Schreiben Sie einen Kommentar

Sie können gern den Beitrag kommentieren. Ihnen stehen maximal 600 Zeichen zur Verfügung. Die EIR-Redaktion behält sich die Veröffentlichung vor.