Die politische Herausforderung religiöser Vielfalt

23. 01. 2024
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Die Bedeutung der beiden großen Kirchen innerhalb der Bevölkerung sinkt. Von dieser Entwicklung unberührt bleiben jedoch die individuellen Glaubens- und Weltanschauungsansichten, denn sie werden zunehmend diverser. Diese Veränderungen in Form von Säkularisierung, Pluralisierung und Individualisierung bergen auch Herausforderungen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Daraus ergibt sich nicht zuletzt ein politischer Handlungsauftrag, der mehr Religionspolitik erforderlich macht.

Seit 2022 sind die Christen in Deutschland in der Minderheit. Erstmals gehören weniger als die Hälfte der Deutschen einer der beiden großen Kirchen an. Als diese Nachricht im vergangenen Jahr die Runde machte, schrieben zwar viele von einer „historischen Zäsur“, wenige fragten aber nach den möglichen politischen Folgen. Tatsächlich sind diese erheblich. Jahrzehntelang hatten sich Staat und Kirchen in einem bequemen Verhältnis des Gebens und Nehmens eingerichtet. Rechtliche Privilegien, Steuereinzug, Sozialfürsorge, politische Mitsprache und Begegnungen auf Augenhöhe – man lebte unter demselben Himmel. Immer weniger glauben, dass dies so bleiben sollte. Tempi passati!

Sauftour statt Himmelfahrt

Der Niedergang der Volkskirchen und ihr immer geringerer Einfluss auf politische und gesellschaftliche Institutionen, Prozesse und Wertvorstellungen vollzieht sich seit Jahrzehnten und wird sich fortsetzen. Die Säkularisierung, also die Abkehr von organisierten Formen der Religiosität, ist seit langem eine Begleiterscheinung der Moderne. In nahezu allen westlichen Demokratien nimmt nicht nur die formale Mitgliedschaft in Religionsgemeinschaften ab, auch der Glaube an kirchliche Botschaften schwindet. Laut einer Erhebung des Allensbach-Instituts von 2021 bezeichneten sich nur noch 23 Prozent der Katholiken und 12 Prozent der Protestanten als gläubige Mitglieder ihrer Kirche. Etwas anders verhält es sich mit der allgemeinen Wertschätzung der christlichen Kulturtradition und ihrer Bedeutung für Gesellschaft und Politik. Diese genießen weiterhin hohe Zustimmungswerte, allerdings ist auch hier der Trend eindeutig. Immer weniger Menschen können mit christlichen Alltagstraditionen etwas anfangen oder die Bedeutung christlicher Feiertage korrekt einordnen. Die Umwidmung von Christi Himmelfahrt zum vatertaglichen Trinkritual ist zwar wenig sinnstiftend, aber umso sinnbildlicher.

Das Beispiel zeigt, dass die Säkularisierung in der Regel als Verlustanzeige und Krisenphänomen und somit als Herausforderung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt beschrieben wird. Bei genauerem Hinsehen ist sie aber auch Ausdruck einer weitaus komplexeren Entwicklung, die sich im Rahmen der Spannungsfelder der drei religiösen Megatrends – Säkularisierung, Pluralisierung und Individualisierung – vollzieht und deren Auswirkungen weitgehend offen sind. Während die formale Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft abnimmt, haben Pluralisierung und Individualisierung gleichzeitig neue religiöse und weltanschauliche Bezugssysteme auf den Markt gebracht.

Der Himmel wird diverser

Was wir seit Jahrzehnten erleben, ist also nicht das Absterben von Religiosität, sondern vielmehr Veränderungen der Rollen religiöser Ideen und Autoritäten in Staat und Gesellschaft, die mit umfangreichen Wandlungsprozessen des Selbstverständnisses religiöser Institutionen einhergehen. So geht der Einfluss der Kirchen zwar zurück, für individuellen Glauben, praktizierte Spiritualität und das Bekenntnis zu weltanschaulichen Bezugssystemen gilt das aber nicht. Tatsächlich wird der Rückgang formaler Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft konterkariert von einer Zunahme säkularer Weltanschauungen und von (hierzulande) neuen Formen von Religiosität. Mit anderen Worten: Auch der Himmel wird diverser.

Die neue Buntheit, und damit die Abkehr von einheitlich kirchlich-geprägten Glaubensvorstellungen, hat sich lange angedeutet. Spätestens seit dem Aufbruch in die Moderne glauben immer weniger Menschen an ein Leben nach dem Tod – zumindest nicht im Sinne christlicher Himmelsvorstellungen. Der Bayer stöhnt über das im Himmel gereichte Manna und sehnt sich nach dem irdischen Wirtshaus. Der textkritische Muslim fürchtet, die himmlischen Verheißungen könnten auf Übersetzungsfehlern beruhen. Und viele andere empfinden die klassische Vorstellung vom ewigen Leben im palmenbestandenen Luxusresort ohnehin als langweilig und verlegen den Himmel lieber auf Erden.

TikTok statt Kirche

Die Folge ist eine Zunahme an weltanschaulich geprägten Heilsangeboten, spirituell grundierten Lebensstilen und Religionsgemeinschaften jenseits der etablierten Großkirchen. Das von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen 2021 herausgegebene „ABC der Weltanschauungen“ listet eine Vielzahl dieser gesellschaftlich relevanten Gruppen und Strömungen. Das Spektrum reicht von „Achtsamkeit“ bis „Yoga“. Auch Homöopathie, Reichsbürgertum und Astrologie sind hier zu finden. Bewegungen also, deren Anhänger sich gegen den Verdacht des Religiösen verwahren würden, die aber geprägt sind von Sinnsuche, Heilsversprechen und dem Glauben an irgendwelche verborgenen Mächte. Kein Wunder (auch das ein Befund der Allensbach-Studie von 2021), dass auch der Glaube an Wunder beständig zunimmt.

Die neue religiöse Diversität findet sich auch in der Populärkultur. Tod und Auferstehung sind hier seit Langem gängige Motive. Serienangebote der Streamingdienste greifen Jenseitsvorstellungen auf und aktuelle Bücher geben Tipps für das Leben nach dem Tod. Auch in den sozialen Medien boomen die Sinnangebote. Gerade junge Menschen suchen spirituelle Anleitung weniger in der Kirche, dafür auf YouTube, Instagram und TikTok. Hier finden sich die emotionalen Botschaften von „Sinnfluencern“, die mit zeitgeistigen Ansprachen die Eigenlogik sozialer Medien bedienen. Die zunehmenden Follower-Zahlen weltanschaulicher Online-Prediger offenbaren auch eine Neuverhandlung religiöser Autorität. Nicht mehr der Pfarrer mit Soutane und Theologiestudium öffnet die Tore zum Himmel, sondern die gut frisierte junge Frau von nebenan, die ihre gelebte Religiosität aufs Handy streamt.

Irdische Verunsicherungen

Die Säkularisierungsthese ist daher seit einiger Zeit in der Kritik. Schon vor Jahren widersprachen Bücher wie „Rückkehr der Religionen“ (2001) oder „Wiederkehr der Götter“ (2007) der Annahme vom zunehmenden Bedeutungsverlust der Suche nach dem Göttlichen. Was aber heißt es, wenn der Himmel nicht abgeschafft, sondern in immer vielfältigeren Formen und Ausprägungen gedacht und geglaubt wird? Hier scheiden sich die Geister. Während Diversität in anderen gesellschaftlichen Fragen begrüßt, befördert und beworben wird, sorgt sie in Glaubensfragen für Verunsicherung. Laut dem Religionsmonitor 2023 der Bertelsmann Stiftung[1] hält gut ein Drittel der Menschen in Deutschland die neue Pluralität der Bekenntnisse für eine Bedrohung. Nur 29 Prozent bezeichneten die Zunahme religiöser Vielfalt als Bereicherung. Skepsis überwiegt vor allem bei Menschen ohne Religionszugehörigkeit. Verglichen mit dem Religionsmonitor 2013 ist der Trend offensichtlich. Hatten damals noch 89 Prozent aller Befragten gesagt, man solle „gegenüber allen Religionen offen sein“, ist dieser Wert im aktuellen Religionsmonitor auf 80 Prozent gesunken. Gleich um 13 Punkte auf 59 Prozent ging die Zustimmung zu der Aussage zurück, dass „jede Religion einen wahren Kern“ habe. Die grundsätzliche Zustimmung zu religiöser Vielfalt nimmt also ab.

Die himmlische Verunsicherung ist nicht unbegründet. Religiöse Diversität und Multioptionalität sorgen bei nicht wenigen für Stress und Überforderung. Experten warnen spätestens seit der Corona-Pandemie vor einer Zunahme weltanschaulicher und religiöser Filterblasen. Die Pandemie, aber auch andere globale Krisen haben die Suche nach einfachen Wahrheiten und Schwarz-Weiß-Antworten beschleunigt. Gruppen aus dem esoterischen und islamistischen Spektrum, aber auch aus der Verschwörungsdenker-Szene und aus Teilen der evangelikalen und radikal-katholischen Bewegung verzeichnen Zulauf. Angeblich seien 30 Prozent der Bevölkerung derartigen Paralleluniversen zugeneigt, die immer weniger Bezüge zu gesamtgesellschaftlichen Werten haben.

Politischer Handlungsauftrag

Den Verlust des gemeinsamen Himmels nur zu bejammern ist allerdings genauso wenig erlösend, wie den Gewinn der neuen himmlischen Vielfalt ausschließlich zu bejubeln. Aus der religiösen und spirituellen Unübersichtlichkeit ergibt sich vielmehr ein politischer Handlungsauftrag. Es ist hier wie bei allen Diversity-Fragen: Pluralität muss gesellschaftlich verhandelt und politisch organisiert werden. Religiöse und weltanschauliche Vielfalt verlangt modernen Demokratien einiges an Zumutungen ab und ist politische Schwerstarbeit. Fastenregeln und Feiertage müssen organisiert, Schulunterricht und Moscheebau geregelt und religiös konnotierte Bekleidungen im öffentlichen Raum verhandelt werden. Auch die Zukunft der gesellschaftlich immens wichtigen kirchlichen Trägerstrukturen in Betreuung, Bildung, Pflege und Seelsorge muss gesichert werden. Nicht weniger, sondern mehr Religionspolitik, verstanden als die aktive und reaktive Gestaltung der Beziehungen zwischen Staat, Gesellschaft und Religionsgemeinschaften, ist daher gefordert.

Dass die Vertreter der gegenwärtigen Bundesregierung kaum Interesse an einer gestaltenden Religionspolitik haben und viele von ihnen offenkundig mit dem Thema Religiosität fremdeln, ist daher keine gute Nachricht. Wolkige Bekenntnisse zu Religionsfreiheit, Pluralität und Toleranz werden nicht reichen, um die neue religiöse und weltanschauliche Vielfalt politisch und gesellschaftlich zu organisieren. Die immer mühsamer werdenden Aushandlungsprozesse der Ansprüche und Erwartungen von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften im säkularen Rechtsstaat setzen politischen Willen, verfassungsrechtlichen Sachverstand, theologische Offenheit und weltanschauliches Interesse voraus. Hier liegt ein immer wichtiger werdendes Politikfeld ziemlich brach. Wollen Staat und Gesellschaft in vielen Himmeln schweben, brauchen sie gute irdische Konzepte und kundiges Bodenpersonal.

 

Dieser Beitrag erschien in einer längeren Version in der Zeitschrift „Politische Meinung“ Ausgabe 583, Dezember 2023.

Fußnoten

Fußnoten
1 Vgl. Bertelsmann Stiftung (2023): So gelingt religiöse Vielfalt: durch Kontakt zueinander, unter: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/religionsmonitor/projektnachrichten/so-gelingt-religioese-vielfalt-durch-kontakt-zueinander (abgerufen am 22.01.2024).

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