Michael Bauer: Weltanschauungsunterricht. Anmerkungen zu einem inzwischen 100jährigen Problem

04. 10. 2022
Teilen:

2019 feierte der verfassungsmäßig garantierte Religionsunterricht sein 100jähriges Jubiläum. Aus humanistischer Sicht ist die Freude darüber allerdings getrübt.

1. Einleitung

2019 feierte der verfassungsmäßig garantierte Religionsunterricht sein 100jähriges Jubiläum. Aus humanistischer Sicht ist die Freude darüber allerdings getrübt: Es gibt mitnichten in allen Bundesländern einen dem Religionsunterricht gleichwertigen, ebenso wertebildenden und identitätsstiftenden Unterricht für Menschen, deren Weltanschauung nicht religiös und transzendent, sondern humanistisch und immanent geprägt ist.

Dieser Befund erscheint aus mehreren Gründen überraschend.

  • Die Weimarer Reichsverfassung verankerte nicht nur Religionsunterricht an den Schulen der neuen Republik, sie führte auch das Gleichbehandlungsgebot von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und das Diskriminierungsverbot aufgrund von Religion oder Weltanschauung ein. Doch daraus folgte keine breite Öffnung der Wertebildung an den Schulen über den Religionsunterricht hinaus.
  • Aus staatspolitischer Sicht sollte es sinnvoll sein, das demokratische Fundament der Republik von möglichst vielen Perspektiven aus zu stützen. Denn der Staat lebt zweifellos von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann, vielmehr bedarf er dazu zivilgesellschaftlicher Akteure (Böckenförde) – was die Werte angeht, vor allem der Religions- und, angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen Pluralität, natürlich auch der nichtreligiösen Weltanschauungsgemeinschaften. Die Weltanschauungsunterrichte würden damit eine wichtige Funktion in der Schule erfüllen.
  • Und schließlich – nebenbei bemerkt – würde diese Pluralisierung an der Schule auch Brüche im Legitimitätsfundament der Religionsunterrichte vermeiden helfen, die durch deren einseitige Privilegierung entstehen können.

 

2. ›Ethik‹ ist kein Weltanschauungsunterricht

Man mag nun einwenden, es gäbe ja des Schulfach ›Ethik‹ als Ersatzfach. Allerdings scheint das neutrale Fach ›Ethik‹ als staatlicher Moral- und Sittenunterricht gegenüber dem Mehrwert des Religionsunterrichts über seine religionskundlichen Aspekte hinaus defizitär. Denn das Grundproblem von ›Ethik‹ ist eben seine Neutralität, was es als Wertefach kaum tauglich erscheinen lässt. Neutrale Werte gibt es nicht, und Wertebildung ist etwas anderes als dazu anzuleiten, Normen zu befolgen. Auch wenn manche in der politischen Debatte es für auskömmlich halten, wenn alle gemeinsam den Kanon des Grundgesetzes lernen würden: Normen sind bekanntlich keine Werte, sondern sie beruhen auf ihnen. Letzteres zu verstehen und positiv nachvollziehen zu können, ja selbst ein dazu kompatibles Wertefundament zu entwickeln: darum geht es. Dies kann ein Fach mit einem eigenen weltanschaulichen Standpunkt wesentlich besser erreichen als eines ohne einen solchen Standpunkt. Denn nichtreligiöse Menschen sind nicht ›nichts‹ oder stehen neutral zu allem, sondern haben eigene Lebenseinstellungen, Wertequellen und Sinnkonstruktionen ihres Lebens, und all dies hat eine eigene geistige Geschichte. Genügend Stoff also für ein eigenes Wertefach, und genügend Anlass, es von einer authentischen, weltanschaulich nicht beliebigen Lehrperson unterrichten zu lassen.

 

3. Welche Organisationen als Partner des Staates?

Bei der Beantwortung der Frage, warum der Religionsunterricht eine beachtliche Erfolgsgeschichte aufweist, ein weltanschaulicher Unterricht aber bis heute kaum vorkommt, ist die Positionierung der möglichen Träger- oder Kooperationsorganisationen eines solchen Unterrichtes von Bedeutung. Ohne diese Organisationen als Partner wäre der Staat als schulischer Akteur nicht in der Lage, einen derartigen Unterricht zu implementieren. Dies sind historisch die Freireligiösen Gemeinden, die in der Regel bis auf die Zeit des ›Vormärz‹ zurückgehen. Sie haben sich 1859 zum Bund Freireligiöser Gemeinden[1] zusammengeschlossen, eine Organisation die auch heute noch besteht, allerdings wenig in Erscheinung tritt. Die einzelnen Gemeinden in den Ländern bzw. ihren politischen Vorgängern existieren zum Teil ebenfalls heute noch, wenn auch auf unterschiedlichem Aktivitätsniveau und in mittlerweile verschiedenen weltanschaulichen Kontexten. Viele von ihnen sind seit der Weimarer Zeit Körperschaften des öffentlichen Rechts, wenn auch nicht alle auch heute noch einem freireligiösen Bekenntnis zugehörig sind. Dabei verläuft die Skala sozusagen von klassisch-freireligiös bis zu freidenkerisch-atheistisch, wobei gegenwärtig im freireligiösen Traditionsstrang vor allem drei Ausprägungen festzustellen sind:

  • Organisationen, die nach wie vor das freie Religiöse pflegen und mit einer allgemein humanistischen Ethik verbinden. Diese Organisationen finden sich vor allem am Rhein, etwa in Mannheim und Ludwigshafen, aber z. B. auch in Frankfurt am Main/Wiesbaden und Offenbach. Diese Gemeinden verfügen über das, was religiöse Gemeinden auch im kirchlichen Kontext üblicherweise aufweisen: einen Kultus, soziale Einrichtungen, und auch die Erteilung eines Freireligiösen Unterrichts als Religionsunterricht an den staatlichen Schulen, manchmal sogar Prediger im Talar. Oftmals sind diese Gemeinden mit Staatsverträgen oder zumindest Vereinbarungen über ihr Wirken mit den Ländern ausgestattet, nicht selten auch mit pauschalen finanziellen Zuwendungen.
  • Am anderen Ende des Spektrums befindet sich etwa der heutige Bund für Geistesfreiheit (bfg) Bayern, die ehemalige freireligiöse bzw. freigeistige Landesgemeinde Bayern, die ihren Namen 1990 änderte. Diese ist zwar bis heute eine Körperschaft des öffentlichen Rechts und erhält staatliche Zuschüsse für die ›Besoldung der Seelsorgegeistlichen‹, wie der Titel des Staatshaushalts heißt, lehnt jedoch politisch zugleich sowohl die öffentliche Rechtsform wie auch die staatliche Bezuschussung ab; entsprechend tritt der bfg »für die konsequente Trennung von Kirche und Staat sowie Abschaffung kirchlicher Privilegien ein«[2]. Die Organisation prägt kaum mehr eine Weltanschauungspflege aus, sondern verhält sich eher wie ein politischer Verein in freidenkerischer Tradition. Selbst die von ihr ausgerufenen ›Feiertage‹ orientieren sich an externen, vorgefundenen Inhalten, wie dem Tag der Menschenrechte. Derartig ausgerichtete Organisationen gibt es auch als neuere Gründungen, freilich ohne die Eigenschaft der öffentlich-rechtlichen Körperschaft, etwa den Verein des sog. Internationalen Bundes der Konfessionsfreien und Atheisten (gegründet 1976) oder die religionskritische privatrechtliche Giordano-Bruno-Stiftung des Unternehmers Herbert Steffen (gegründet 2004) mit ihren regionalen Unterstützerkreisen.
  • Zwischen diesen Polen[3] befinden sich die Organisationen, die in den letzten Jahrzehnten ebenfalls eine Fortentwicklung von ihrem freireligiösen Erbe erlebten, allerdings hin zu einer nichtreligiösen Weltanschauung, die üblicherweise als Humanismus[4] oder auch weltlicher oder säkularer Humanismus bezeichnet wird (wobei dieser Begriff vor allem im englischen Sprachraum leichter einleuchtet und eine bekanntere Tradition hat als in Deutschland). Diese weisen ebenfalls, aber schwächer, eine Form des Kultus (z. B. Hochzeitsfeiern, Namensfeiern oder Jugendfeiern) und ein Vereinsleben auf, widmen sich aber teilweise auch sozialer und Bildungsarbeit. Zu diesen Organisationen gehören die jeweiligen Landes-Mitgliedsorganisationen des Humanistischen Verbandes Deutschlands (HVD) e.V. und die Humanistische Vereinigung, die bundesweit als öffentlich-rechtliche Körperschaft auftritt. Einen bemerkenswerten Sonderfall, der auf die geradezu fluidale Offenheit der Entwicklungen in diesem Spektrum hinweist, bildet der Humanistische Verband Berlin-Brandenburg, der auf eine Versicherungsgesellschaft im Freidenker-Spektrum zurückgeht und mit der Wiedervereinigung und dem Zuwachs an ehemals Ostberliner Strukturen zu einer voluminösen Organisation aufwuchs. Im Rahmen der ›Bremer Klausel‹ (Art. 141 Grundgesetz [GG]) ist es nun diese freidenkerische Organisation und nicht die (ebenfalls noch existierende) Berliner Freireligiöse Gemeinde, die mit dem ›Humanistischen Lebenskunde-Unterricht‹ an vielen Berliner Schulen präsent ist. Aufgrund der Berliner Besonderheiten bewegt sich dieser als Bekenntnisunterricht ermöglichte Unterricht heute fließend hin zu einem allgemeinen ethischen Unterricht, was manche Beobachter kritisieren. Dementsprechend kämpfte der HVD Berlin auch bei dem damaligen Volksentscheid 2009 gegen einen allgemeinverbindlichen Religionsunterricht und für einen allgemeinen Ethikunterricht, wohl wissend dass er damit die Schlechterstellung seines eigenen Unterrichtsangebots perpetuiert.[5]

Letztere Beobachtung verweist darauf, dass die Frage, ob es einen dem Religionsunterricht formal vergleichbaren Unterricht an den öffentlichen Schulen überhaupt geben sollte, zwischen den Organisationen des ›säkularen Spektrums‹ und teilweise auch innerhalb dieser Organisationen durchaus umstritten ist. Selbst Organisationen, die zumindest historisch durchaus in der Lage waren, ein eigenes Unterrichtsfach anzubieten, verzichten heute darauf absichtsvoll zugunsten eines allgemeinen Faches ohne Bekenntnischarakter. Dazu zählt mit dem HVD Niedersachsen, früher Freie Humanisten, früher Freireligiöse Gemeinde, immerhin auch eine Organisation, die mit einem veritablen, großzügig dotierten Staatsvertrag ausgestattet ist[6]. Der HVD Baden-Württemberg e.V. bzw. die in ihm organisierten Humanisten Württemberg, früher Freireligiöse Landesgemeinde, verfolgen nicht das Ziel eines humanistischen Weltanschauungsunterrichts; stattdessen unterstützten sie eine (erfolglose) Verfassungsklage zur allgemeinen Einführung eines Ethikunterrichts als Ersatzunterricht im Land.[7]

Man erkennt leicht, dass eine konsistente, einheitliche Haltung der entsprechenden möglichen Kooperationsorganisationen zur Frage des weltanschaulichen Unterrichts an den öffentlichen Schulen in Deutschland nicht durchgängig besteht. Im Gegenteil, im Verlauf des letzten Jahrzehnts ist eher ein Abrücken von diesem weltanschauungspolitischen Ziel selbst bei denjenigen festzustellen, die es zuvor noch verfolgt hatten. Andere, säkularistisch-laizistisch oder freidenkerisch orientierte Gruppierungen wollten dies ohnehin und von Anfang an nicht, da sie für die Abschaffung aller derartigen Fächer eintreten.

Politisch sprechen all diese Organisationen keineswegs mit einer Stimme, vielmehr verfolgen sie teils sogar gegenläufige Ziele. Freilich: Eine einheitliche Haltung im ›säkularen Spektrum‹ ist auch gar nicht zwingend erforderlich, und bloße Nichtreligiosität ist gewiss kein ausreichend einigendes Band für ein gemeinsames Auftreten. Die Vielstimmigkeit und Uneinigkeit erleichtert es aber staatlichen Akteuren, gegenüber allen ihren Anliegen eine ablehnende Haltung einzunehmen, indem sie das (nicht einmal für die verfassten Kirchen bekannte) Erfordernis einer umfassenden organisatorischen Homogenität aller (potentiellen oder subsummierten) Weltanschauungsangehörigen in der Bevölkerung konstruieren – auch die Islamverbände kennen dieses Spiel.

 

4. Antrag auf Weltanschauungsunterricht der Humanistischen Vereinigung

Einen spezifischen Fall in diesem Spektrum bildet die 1848 in Nürnberg gegründete Humanistische Vereinigung, die wegen dessen zunehmender Nähe zu säkularistischen Strömungen[8] 2019 nach 20jähiger Zugehörigkeit den Dachverband des HVD e.V. verlassen hat. Sie legt ihrem Humanismus-Verständnis zwar ein modernes naturwissenschaftliches Weltbild zugrunde und versteht sich ausdrücklich als nichtreligiös, begreift aber Humanismus als undogmatische Lebenseinstellung, die konstruktivistisch geprägt ist und daher auch andere »Konstruktionen der Wirklichkeit« (Berger/Luckmann) respektiert. Sie knüpft zugleich, was ihre Praxis angeht, explizit an ihre freireligiöse Tradition an und sieht diese als moderne Fortsetzung ihres historischen Erbes. Was ihre Weltanschauungspflege angeht,[9] weist sie starke formale Ähnlichkeiten – freilich auch inhaltliche Unterschiede – zu den Freireligiösen Gemeinden auf. Vor allem soziale und pädagogische Tätigkeiten treten hinzu, die konzeptionell stark auf einen weltanschaulichen Humanismus im oben beschriebenen Sinne bezogen sind. Die Humanistische Vereinigung gründete die bislang einzige Humanistische Grundschule als Weltanschauungsschule in Fürth (2008), an der das Schulfach ›Humanistischer Unterricht‹ als ordentliches Lehrfach »an die Stelle des Religionsunterrichts« tritt.[10]

Daher ist es kein Zufall, dass die Humanistische Vereinigung (damals noch unter dem Namen HVD Bayern) die Frage nach einem weltanschaulichen Unterricht – zunächst an ihrem historischen Sitz in Bayern – neu stellte und einen solchen für sich und ihre Angehörigen in Anspruch nehmen wollte. Damit sollte er zugleich auch als offenes Angebot für alle interessierten Eltern und Schüler: innen an den öffentlichen Schulen eingerichtet werden. Nachdem ein entsprechender Antrag abgelehnt wurde,[11] ist die Sache derzeitig – Stand: November 2020 – gerichtsanhängig.

 

5. Begründung der Bayerischen Staatsregierung für die Ablehnung

Die Herleitung der Staatsregierung bei ihrer Ablehnung ist aufschlussreich. Diese beruht auf zwei Argumenten:

  • Art. 7 GG privilegiere nur den Religionsunterricht, keinen Weltanschauungsunterricht, denn dieser sei nicht aufgelistet. Dadurch würde ein Weltanschauungsunterricht die gebotene weltanschauliche Neutralität der Schule verletzen, die wegen Art. 7 für Religionen, aber eben nur für diese, nicht gelte.
  • Das in Art. 140 GG genannte Gleichbehandlungsgebot von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften beziehe sich nur auf die in Art. 137 Weimarer Reichsverfassung (WRV) ausdrücklich genannten Bereiche, insbesondere auf die Rechtsform, nicht auf weitere, in der WRV bzw. im GG erklärten Maßgaben oder definierten Rechte für Religionsgemeinschaften oder Religion im Allgemeinen.

Aus der Zusammenschau dieser beiden Argumente ergibt sich als Konsequenz, dass nach Ansicht der Bayerischen Staatsregierung Angehörige einer humanistischen Weltanschauung weniger Elternrechte haben als christliche Eltern, und dass auch ihre weltanschaulichen Zusammenschlüsse nicht die Rechte der Kirchen genießen. Diese von Kritikern als diskriminierend bezeichnete Haltung[12] mag angesichts der politischen Verhältnisse in Bayern nicht überraschen, und es mag durchaus dahinstehen, wie die Gerichte diese Argumentation am Ende bewerten. In einem – angegriffenen – erstinstanzlichen Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach zum weltanschaulichen Unterricht an den staatlichen Fachakademien für Sozialpädagogik – einer etwas anders als bei den staatlichen allgemeinbildenden Schulen gelagerten Frage – schloss sich das Gericht in der Begründung allerdings weitgehend der Regierung an. Dieses Gericht lehnte freilich 2006 auch den Schulgründungsantrag für die Humanistische Grundschule ab; das Urteil wurde daraufhin vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof kassiert. Wahrscheinlich wird diese Frage erst von einem obersten Bundesgericht entschieden werden.

Die bayerische Regierung hat im vorliegenden Fall eine bestimmte Auslegung der WRV zum Zentrum ihrer Ablehnung gemacht. Sie hat somit die rein bayerische, landesbezogene juristische Sphäre verlassen und die Problematik auf eine bundesweite Bühne gehoben. Wie auch immer diese Streitigkeit ausgeht, sie wird bundesweite Auswirkungen haben. Ohne damit alle juristischen Sachverhalte erledigen zu wollen, lohnt es sich in diesem Jubiläumsjahr dennoch, die historische Genese des einschlägigen Artikels der WRV etwas genauer zu untersuchen und zu überprüfen, ob die Lesart der bayerischen Staatsregierung stichhaltig oder gar zwingend ist – oder nicht.

 

6. Freireligiöser Unterricht vor 1918

Die Geschichte der Freireligiösen Gemeinden reicht bis in die 1840er Jahre zurück. Im Zuge eines religiösen Aufbruchs entstanden in den Staaten des Deutschen Bundes Reformgemeinden, die sich einer rationalen Lesart der christlichen Religion (vor allem die sog. ›Lichtfreunde‹) oder einer allgemeinen Religion der Menschenliebe verschrieben hatten. In den größeren Städten, aber auch auf dem Lande gab es solche Gemeinschaften, die sich als Deutschkatholisch, als Freie Gemeinde oder Freie Christliche Gemeinde bezeichneten. Diese Landschaft war örtlich sehr unterschiedlich geprägt, sie reichte von einem rationalistischen Protestantismus verhafteten Gruppen bis hin zu solchen, die im frühsozialistischen Kontext standen und von denen einige auch offen atheistisch geprägt waren. Von der Obrigkeit waren sie wenig gelitten, teils wurden sie auch aktiv bekämpft. Während der Revolutionsjahre verbesserte sich ihre Stellung vielerorts, aber mit dem Scheitern der Revolution kam viele Gemeinden unter den verstärkten politischen Druck der Restauration. An vielen Orten entstanden aus den Reihen dieser Gemeinden freiheitliche Bildungsanstalten: viele Kindergärten, allgemeinbildende und Gewerbeschulen, auch eine Hochschule für Frauen war darunter. Auch wenn diese Pflanzen wegen der bald einsetzenden Repression nur von kurzer Blüte sein konnten, so gehört doch die Unterweisung der Kinder und die Erteilung eines eigenen, moralischen Unterrichts sozusagen zur DNA dieser Bewegung, die als eine der wirkmächtigsten sozialen Bewegungen der Jahrhundertmitte angesehen wird. Immerhin war ihre ›Gründungsurkunde‹, das Sendschreiben des schlesischen Pfarrers Johannes Ronge gegen die Zurschaustellung des Trierer Rocks 1843, die auflagenstärkste Flugschrift des Vormärz. In ihr stellte sich Ronge gegen den Wunderglauben und ebenso gegen die Geschäftemacherei des Bischofs, zwei seither gern besuchte Topoi der freidenkerischen Kirchenkritik. Aufgrund ihrer Ferne zum religiösen Dogma, ihrer Ablehnung der amtskirchlichen Strukturen und ihres Eintretens für Demokratie und Gleichberechtigung der Geschlechter fanden sie jedoch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum politische Unterstützung bei den zumeist durchgängig konservativen Regierungen in Deutschland. Ihre politische Heimat fand sie damals jedoch in der jungen SPD. Viele sozialdemokratische Politiker:innen waren Mitglieder und Funktionäre der Freireligiösen Gemeinden, wie diese Gemeinschaften nach dem Zusammenschluss im Bund Freireligiöser Gemeinden und später reichsweit einheitlich firmierten. Wie ein Blick in die Listen der Abgeordneten des Reichstages zeigt, war eine erhebliche Anzahl, wenn nicht sogar die meisten der SPD-MdR während der Weimarer Republik Mitglied einer solchen, freireligiösen Gemeinde. Trotz dieser offensichtlichen Bedeutung für die deutsche Geschichte ist die Geschichte dieser Gemeinden in politischer wie pädagogischer Hinsicht bisher nur in Ansätzen erforscht. Es ist davon auszugehen, dass angesichts der unterschiedlichen politischen Rahmenbedingungen und aufgrund der ohnehin gegebenen örtlichen Spezifika der Gemeinden und ihrer (landes)gesetzlichen Grundlagen große regionale Unterschiede bestanden (und bis heute bestehen), die es erschweren, ein klares Bild über sie zu gewinnen. Im Nürnberger Raum jedenfalls war die Freireligiöse Gemeinde Träger eines freireligiösen Unterrichts, der seit der Eröffnung der dortigen Simultanschule im Jahr 1871 erteilt wurde und jedes Jahr mehrere Hundert Schülerinnen und Schüler erreichte. Auch in den Nachbarstädten Fürth und Erlangen wurde von den dortigen Gemeinden ein solcher Unterricht veranstaltet, oftmals in personeller Kooperation. Als Lehrkräfte wurden von der Gemeinde mehrere Lehrer beschäftigt, wobei der ›Hauptlehrer‹ zugleich das Amt des Sprechers der Nürnberger Gemeinde bekleidete und – ähnlich wie ein sozusagen ›säkularer Pfarrer‹ – auch für das Gemeindeleben und den Kultus verantwortlich war. Die Stellung des Unterrichts war jedoch prekär. Er war von den liberal und sozialdemokratisch orientierten Stadträten genehmigt und finanziert worden; die königliche Regierung legitimierte ihn zunächst zwar, duldete ihn dann aber nur noch und verbot ihn nach dem Ausbruch des 1. Weltkrieges sogar. Mit der Gründung des republikanischen Freistaats lebte er jedoch sogleich wieder auf. Ähnlich wie in Nürnberg war der freireligiöse Unterricht auch andernorts im Reich fester Bestandteil des schulischen Lebens.[13]

 

7. Freireligiöser Unterricht war Religionsunterricht im Sinne der Weimarer Reichsverfassung

Vor diesem Hintergrund wird klar, dass den Abgeordneten der Nationalversammlung die Vorstellung eines gänzlich nichtreligiösen weltanschaulichen Unterrichts fremd gewesen sein muss. Der freireligiöse Unterricht mag zwar von manchen auch als weltanschaulicher Unterricht gesehen worden sein, zuvorderst war er aber – wie der Name schon sagt – eine Spielart des Religionsunterrichts, und ein solcher war der einzige Unterricht, von dem man wissen konnte. Warum also einen Weltanschauungsunterricht antizipieren? Zudem war der Begriff ›Weltanschauung‹ im Zusammenhang mit dem Schulwesen eher im Kontext des Sozialismus verortet, wie auch die damalige, begrifflich oftmals unscharfe Auseinandersetzung um die ›Weltanschauungsschule‹ und die ›weltliche Schule‹ zeigt.[14] Die Einbettung der Frage des schulischen Religions- und ggf. Weltanschauungsunterrichts in die Debatte um das Verhältnis von Staat und Kirche in der neuen Republik, die gerade von den Kirchen und dem Zentrum vor dem beängstigenden Hintergrund revolutionärer und sozialistischer Kultus- und Schulreformen geführt wurde, mag ein Übriges dazu getan haben, dass man hier mit dem gefundenen Schulkompromiss zufrieden war und einstweilen mit einem gewissermaßen unfertigen Ergebnis leben konnte.

Art. 149 Abs. 1 WRV war durchaus eine Reaktion der konservativen und klerikalen Parteien auf einige schulpolitischen Entscheidungen der sozialistisch beeinflussten Länderregierungen nach der Revolution 1918. In Bayern etwa war per Verordnung des damaligen zuständigen Ministers Johannes Hoffmann die geistliche Ortsschulaufsicht aufgehoben und Religionsunterricht zum Wahlfach herabgestuft, aber nicht abgeschafft worden. In anderen Ländern, zum Beispiel in Hamburg, wurde der Religionsunterricht dagegen komplett aus der Schule verbannt. Damit wurden schulpolitische Grundsatzentscheidungen des Erfurter Programms der Sozialdemokraten relativ schnell nach der Revolution umgesetzt. Die darauf einsetzende massive Gegenbewegung der Kirchen, kirchlichen Parteien und Verbände führte unter anderem auch zu einer intensiv diskutierten Interpellation in der Deutschen Nationalversammlung; in den diese Sache betreffenden und heftig geführten Beratungen im Verfassungsausschuss und in der Nationalversammlung kam es zur Eingabe und Annahme des entsprechenden Artikels zur verfassungsrechtlichen Garantie des Religionsunterrichts. Der Vorläufer des Art.7 Abs.3 verdankt seine Existenz den Forderungen vor allem des Zentrums, den Religionsunterricht im Schulkampf gegen die Idee der weltlichen, konfessionslosen Schule, die keinen Religionsunterricht kennt, zu verteidigen – im Rahmen des (anlaufenden) Schulkompromisses auch erfolgreich. Dass in Weimar keine Diskussion um die Einbeziehung des Ausdrucks ›Weltanschauungsunterricht‹ stattfand, ist insofern nachvollziehbar, als die bis dahin schon existierenden Weltanschauungsgemeinschaften zwar schulpolitische Vorstellungen hatten, aber keine eigenen Schulträger etwa im Volksschulbereich waren. Dass aber der von den Freireligiösen Gemeinden organisierte freireligiöse Unterricht sehr wohl unter diesen Artikel fiel, das wird etwa durch eine unwidersprochene Aussage des Abgeordneten Dr. Luppe in der zweiten Lesung der Verfassung in der Nationalversammlung deutlich, in der er die Geltung der Garantie des Religionsunterrichts aus dem im Verfassungsausschuss ausgehandelten Kompromiss bestätigt:

»Hier war ausdrücklich festgelegt, daß der Religionsunterricht obligatorischer Unterrichtsgegenstand sein sollte, und zwar nicht nur für die bisherigen anerkannten Kirchengemeinschaften, sondern auch für alle freien Organisationen. Der ganze Religionsunterricht ebenso wie der freireligiöse Unterricht sollte von Staats wegen erteilt werden, und es sollte jedem Kinde und jedem Lehrer die Teilnahme und die Erteilung des Unterrichts freigestellt werden.«[15]

Das, was heutzutage als ›Humanistischer Unterricht‹ bezeichnet und als Weltanschauungsunterricht verstanden wird, wurde in Weimar unter den Religionsunterricht als Bekenntnisunterricht subsumiert. Freilich wurde der freireligiöse Sitten- oder Religionsunterricht etwa 1914 auch schon verboten, und zwar aufgrund seines vermeintlich antichristlichen, monistischen und materialistischen Charakters (so in der Begründung der Königlich Bayerischen Regierung unter Knilling im Jahr 1914); dieses Verbot wurde jedoch durch den Minister Johannes Hoffmann Anfang 1919 unmittelbar nach der Revolution wieder aufgehoben und dann im Rahmen der WRV gemäß der obigen Aussage von Luppe verfassungsmäßig institutionalisiert.

Es ist daher die These gerechtfertigt, dass die Nationalversammlung davon ausging, mit dem Begriff ›Religionsunterricht‹ seien auch alle Unterrichte der freireligiösen Gemeinden gedanklich und juristisch mit umfasst. Dafür gibt es nicht nur das weiter oben genannte, logische Indiz, sondern es liegen auch Äußerungen im Beratungsgang der Versammlung vor, die in diese Richtung weisen. Wenn also behauptet wird, dass ein Weltanschauungsunterricht in den entsprechenden Artikeln von den Verfassungsgebern ganz bewusst nicht genannt wurde, somit eine implizite Privilegierung des Religionsunterrichts gegenüber dem Weltanschauungsunterricht hineinzulesen ist, wie das heute die Bayerische Staatsregierung unternimmt, so muss man zumindest für den Art. 149 Abs. 1 WRV erkennen, dass aus dem historischen Kontext eine begriffliche und ausdrückliche Trennung von Religions- und Weltanschauungsunterricht und somit auch eine Privilegierung eben nicht bestand. Der Schluss scheint daher nach einer sorgfältigen historischen Betrachtung zwingend, dass ein heutiger Weltanschauungsunterricht, ganz in der Tradition des Freireligiösen Unterrichts, bei dem Wort »Religionsunterricht« in Art. 7 GG mit zu lesen ist, er von diesem Artikel mit umfasst ist.

Auch Zeitgenossen war im Nachgang der Nationalversammlung aufgefallen, dass hier noch manch loses Ende zu verknüpfen wäre. Diese begrifflichen, konzeptionellen und politischen Unschärfen sollten im Rahmen des Reichsschulgesetzes behoben werden, zu dem es trotz einiger Anläufe jedoch nie kam.

 

8. Schluss

Es war hier nicht der Ort, die gesamte Problematik weltanschaulicher Unterrichtsfächer in ihrer Komplexität darzulegen und aufzuschlüsseln. Einige Einblicke müssen genügen. Doch es dürfte immerhin deutlich geworden sein, dass auch nach 100 Jahren die Regelungen der WRV (und in der Folge des GG) zum Religionsunterricht und zum Status von Weltanschauung und Weltanschauungsgemeinschaften in Deutschland strittig bleiben – und die politischen und praktischen Folgerungen aus ihnen sogar unter den Weltanschauungsgemeinschaften selbst alles andere als einheitlich sind.

Doch es geht letztlich nicht um das Eigeninteresse von Organisationen, ja nicht einmal um das ›Elternrecht‹ auf die Erziehung der Kinder in der elterlichen Religion und Weltanschauung (ein wichtiger Aspekt, zu dem hier keine Ausführungen gemacht wurden). Es geht um die Frage, was soll Schule sein, was soll sie leisten? Die Vision einer öffentlichen Schule, an der

  • die weltanschauliche Überzeugung aller gleich respektiert wird, und
  • die individuelle weltanschauliche Überzeugung aller gebildet und gelebt werden kann,
    bleibt in Deutschland[16]

noch zu verwirklichen. Wir wissen: Echte und gelebte Pluralität führt zu Verständnis und Wertschätzung des Anderen. Dieser essentielle Bildungsauftrag der Schule ist gerade unter den zeitgenössischen Bedingungen einer weltanschaulich pluralen, auch von Einwanderung geprägten Gesellschaft dringlich umzusetzen. Wertebildungsfächer auf Augenhöhe leisten dazu den entscheidenden Beitrag.[17]

 

Dieser Aufsatz ist ein Beitrag des Buches „Neuvermessung des Religionsunterrichts nach Art. 7 Abs. 3 GG. Zur Zukunft religiöser Bildung“, herausgegeben von Andreas Kubik, Susanne Klinger und Coşkun Sağlan, S. 87–99.

Andreas Kubik | Susanne Klinger | Coşkun Sağlan (Hrsg.)
Neuvermessung des Religionsunterrichts nach Art. 7 Abs. 3 GG. Zur Zukunft religiöser Bildung

V&R unipress, 1. Aufl. 2022, 337 Seiten
ISBN: 978-3-847-11312-6

Fußnoten

Fußnoten
1 Siehe www.freireligioese.de (Abruf: 14.12.2020).
2 Historisches Lexikon Bayerns, Artikel »Bund für Geistesfreiheit Bayern«, www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Bund_f%C3 %BCr_Geistesfreiheit_Bayern (Abruf: 22. 11. 2020).
3 Mit den vielfältigen Friktionen in und zwischen diesen Organisationen hat sich erstmals ausführlicher der Religionswissenschaftler Stefan Schröder befasst: Stefan Schröder, Freigeistige Organisationen in Deutschland. Weltanschauliche Entwicklungen und strategische Spannungen nach der humanistischen Wende, Berlin/Boston 2018.
4 Zur Problematik des Begriffs und seiner Vieldeutigkeit siehe Horst Groschopp, Humanismus-Begriffe, Aschaffenburg 2016.
5 Siehe dazu z. B. den Artikel: Werner van Bebber, »Religionsgegner – Wer sind die Humanisten?«, in: Der Tagespiegel (15.2.2009).
6 Vgl. Humanistischer Verband Niedersachsen, »Humanistisch leben«, in: Zeitschrift des Humanistischen Verbandes Niedersachsen 1 (2019), S. 17.
7 Vgl. Humanistische Rundschau der Humanisten Württemberg (April 2013), S. 4.
8 Siehe Hanna Fülling,»HVD Bayern trennt sich vom Bundesverband«, in: EZW-Materialdienst 9 (2019), www.ezw-berlin.de/html/15_10253.php (Abruf: 13. 4. 2021), S. 339.
9 Siehe vom Autor, »Humanistische Weltanschauungspflege – praktisch gesehen«, in: Humanistik. Beiträge zum Humanismus, hrsg. von Horst Groschopp, Aschaffenburg 2012, S. 247– 268.
10 Vgl. Schreiben des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus (3.3.2010), Archiv der Humanistischen Vereinigung.
11 Vgl. Bescheid des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus (11.12.2018), Archiv der Humanistischen Vereinigung.
12 Die Dimensionen solcher Diskriminierung sind dargestellt in Michael Bauer/Arik Platzek, Gläserne Wände. Bericht zur Diskriminierung nichtreligiöser Menschen in Deutschland, Berlin 2019.
13 Genauen Aufschluss über die unterrichtete Schüler:innenzahl und weitere Angaben dazu bieten die gedruckt veröffentlichten Jahresberichte der Freireligiösen Gemeinde Nürnberg aus dieser Zeit im Archiv der Humanistischen Vereinigung.
14 Siehe dazu beispielsweise Andreas Goeschen, Die bekenntnisfreie weltliche Schule: kein Fall der Weltanschauungsschule im Sinne des Art. 7 Abs. 5 Alt. 2 GG?, Frankfurt am Main 2005.
15 Verhandlungen des Reichstags 328 (1919), S. 1704A.
16 Andere europäische Länder, wie etwa Belgien, verfügen bereits über einen entsprechenden Kanon an wertebildenden Fächern.
17 Der Autor dankt Herrn Dr. Stefan Lobenhofer für wertvolle Zuarbeiten insbesondere zur Geschichte der Weimarer Nationalversammlung.

Kommentare

Dieser Beitrag hat keine Kommentare.

Schreiben Sie einen Kommentar

Sie können gern den Beitrag kommentieren. Ihnen stehen maximal 600 Zeichen zur Verfügung. Die EIR-Redaktion behält sich die Veröffentlichung vor.