„Christlicher Religionsunterricht“ und religiöse Wahrheit

04. 08. 2022
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Der religiös-weltanschaulich neutrale Staat trifft in Fragen religiöser Wahrheit kein eigenes Urteil, sondern überlässt dies den religiösen Individuen und Gemeinschaften. Als freiheitlicher Staat – aber auch im wohlverstandenen Eigeninteresse – eröffnet er Diskursräume für religiöse Fragen.

Verfassungsrechtlich prominent ist der Religionsunterricht in Art. 7 Abs. 3 GG geregelt. Er wird als ordentliches Lehrfach und in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geschieht dies nicht als „historisierende und relativierende Religionskunde“, sondern in „konfessioneller Positivität und Gebundenheit“. Die Glaubenssätze einer Religionsgemeinschaft sind „als bestehende Wahrheiten zu vermitteln.“[1]

Welches Verständnis von Wahrheit zugrunde zu legen ist, muss sich nach dem Selbstverständnis der Religionsgemeinschaft richten. Dabei können einerseits Glaubenswahrheiten in einer Religion stärker affirmiert werden. Andererseits ist Wahrheit in der Religion unter die Transzendenzbegriffe zu rechnen und beispielsweise als Gottesprädikat zu verstehen. Dem würde es widersprechen, bestimmte immanente Ausdrucksformen unmittelbar als Wahrheit zu stipulieren. Im Religionsunterricht ist die Frage nach Wahrheit darum in bewusster und reflektierter religiös-weltanschaulicher Positionalität zu behandeln.

Die Schulreferenten der evangelischen Kirchen und katholischen Bistümer in Niedersachsen machen nunmehr den Vorschlag eines gemeinsam verantworteten „Christlichen Religionsunterrichts“.[2] Im Mittelpunkt sollen die „gemeinsam vertretenen Glaubenswahrheiten“ stehen. Grundlage dafür seien die gemeinsame Bindung an die biblischen Schriften, die altkirchlichen Bekenntnisse und gemeinsame Erklärungen der jüngeren Vergangenheit.[3] Soweit es um Inhalte geht, bei denen konfessionelle Differenzen bestehen, sollen diese für einen Teil der Schüler bekenntnisgebunden, für die anderen bekenntnisfremd unterrichtet werden. Es wird davon ausgegangen, dass auch diese Inhalte von einer Lehrkraft für alle Schüler angemessen vertreten werden können.

Die Anforderungen, die sich daraus für Lehrer und Schüler ergeben, dürfen nicht unterschätzt werden. „Bekenntnisfremd“ können Inhalte nicht „als bestehende Wahrheit“, sondern nur im Modus „historisierender und relativierender Religionskunde“ vermittelt werden. Es muss zugleich vermittelt werden, dass etwas gilt und dass es möglicherweise auch nicht gilt. Das lässt performative Selbstwidersprüche im Unterrichtsgeschehen besorgen. Und es ist zu fragen, ob dies den Konsistenzanforderungen eines „ordentlichen Lehrfachs“ i. S. d. Art. 7 Abs. 3 GG gerecht wird. Oder die bekenntnisdifferenten Inhalte werden durchweg im Modus der Religionskunde vermittelt und das Spezifikum des Religionsunterrichts insoweit sistiert.

Eine besondere Herausforderung stellen – von bestimmten Fragen der Ethik abgesehen – diejenigen Themen dar, bei denen kirchentrennende Differenzen bestehen: vor allem das Amts- und Kirchenverständnis sowie die Frage des Lehramts. Während die römisch-katholische Kirche ein dem Klerus, den Bischöfen und letztlich dem Papst vorbehaltenes zentrales Lehramt kennt, ist dies im evangelischen Verständnis allen Christen gemeinsam anvertraut und diskursiv auszuüben. Es ist zumindest eine offene Frage, ob dieser unterschiedliche Zugang zur religiösen Wahrheit sich nicht auf weitere Inhalte auswirkt, die im Religionsunterricht in religiös-weltanschaulicher Positionalität zu vermitteln sind. Lassen sich gemeinsame Glaubensinhalte und Konfessionsdifferenzen tatsächlich so reinlich voneinander scheiden, wie dies für einen gemeinsamen Religionsunterricht vorauszusetzen ist?

Die beteiligten Kirchen müssen nun jeweils auf der Grundlage ihres Bekenntnisses und nach Maßgabe ihrer Verfassung klären, inwieweit ein gemeinsam verantworteter Religionsunterricht mit ihren Grundsätzen vereinbar ist. Dies ist keine allein pragmatische und pädagogische, sondern vor allem eine lehramtliche und theologische Frage, die in entsprechender Weise zu bearbeiten ist. Und es ist ein besonderes Augenmerk auf die Ausbildung, Auswahl und Bevollmächtigung der Lehrkräfte zu richten. Diese müssen, wenn der Religionsunterricht von mehreren Kirchen getragen werden soll, letztlich von allen Kirchen approbiert werden – sei es durch Zustimmung im Einzelfall oder durch die Vereinbarung verbindlicher Verfahren und Kriterien.

Das Religionsverfassungsrecht lässt einen gemeinsam verantworteten Christlichen Religionsunterricht zu.[4] Doch indem der Staat mit Art. 7 Abs. 3 GG einen religiösen Diskursraum in der Schule eröffnet und diesen an die Grundsätze der Religionsgemeinschaften bindet, fordert er die Religionsgemeinschaften heraus, ihr Selbstverständnis religiöser Wahrheit zu klären. Bereits darin liegt ein wertvolles aufklärerisches Moment – zum Wohl der Religion wie der Gesellschaft.

Fußnoten

Fußnoten
1 BVerfGE 74, 244 (252).
2 Vgl. Gemeinsam verantworteter Christlicher Religionsunterricht, Ein Positionspapier der Schulreferentinnen und Schulreferenten der evangelischen Kirchen und katholischen Bistümer in Niedersachsen, 2021, unter: https://cdn.max-e5.info/damfiles/default/religionsunterricht_in_niedersachsen/Downloads/Positionspapier-CRU.pdf-fbba549507cf0766ac39916f7f528265.pdf (abgerufen am 25.7.2022).
3 Vgl. Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre (1999); Magdeburger Erklärung (2007).
4 Vgl. Poscher, Ralf (2022): Gutachtliche Stellungnahme zur Verfassungsmäßigkeit des gemeinsam verantworteten christlichen Religionsunterrichts der evangelischen Kirchen und katholischen Bistümer in Niedersachsen, unter: https://www.religionsunterricht-in-niedersachsen.de/damfiles/default/religionsunterricht_in_niedersachsen/CRU/2022-05-16_GemChristRUFinaleFassg.pdf-b258fa99a510de1629b64ce4625c5c9b.pdf (abgerufen am 25.7.2022).

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