Die religiöse Neutralitätspflicht im Land Berlin nach der Rechtsprechung von BAG, BVerfG und EuGH

02. 03. 2023
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Wie soll das Land Berlin nun sein „Neutralitätsgesetz“ ändern? Das Bundesarbeitsgericht (BAG) verlangt bezüglich einer Lehrerin mit Kopftuch nach einer Rechtsänderung; gegen dieses Urteil hatte Berlin sich an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gewandt. Dieses hat nun durch einen Nichtannahmebeschluss die BAG-Entscheidung unangetastet gelassen. Die Rechtslage zum Tragen religiöser Symbole oder Kleidungsstücke im öffentlichen Dienst ist in den Ländern heterogen. Hinzu tritt eine anderslautende Rechtsauffassung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) bei Verboten von Arbeitgebern, am Arbeitsplatz ein religiös konnotiertes Kopftuch zu tragen. Dieser betont die geschützte Freiheit des Unternehmers, die Beschäftigten anzuweisen, das Kopftuch abzunehmen.

BAG und BVerfG zum Neutralitätsgesetz in Berlin

Das BVerfG hat eine Berliner Verfassungsbeschwerde gegen ein BAG-Urteil zum Kopftuchverbot für Lehrerinnen nicht zur Entscheidung angenommen.[1] Zugrunde liegt ein Fall, in dem Berlin sich aufgrund seines Neutralitätsgesetzes geweigert hatte, eine kopftuchtragende Lehrerin einzustellen. Nach § 2 dieses Berliner Neutralitätsgesetzes dürfen Lehrkräfte in den öffentlichen Schulen innerhalb des Dienstes keine sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbole und keine auffallend religiös oder weltanschaulich geprägte Kleidungsstücke tragen. Das BAG vertritt die Ansicht, dass diese Berliner Einstellungspraxis der zweiten Kopftuchentscheidung des BVerfG von 2015 widerspricht.[2] Nach dieser BVerfG-Entscheidung sollte das Kopftuch einer Lehrerin zugelassen werden, wenn keine konkrete Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität vorliegt und wenn zuvor alle anderen Möglichkeiten einer Konfliktlösung erfolglos geblieben sind.[3] Nach dem eingangs zitierten Nichtannahmebeschluss des BVerfG, ist nun die BAG-Entscheidung für Berlin nicht mehr zu umgehen.

Schulgesetze anderer Länder zu religiösen Symbolen oder Kleidung

Andere Bundesländer haben ebenfalls implizite Kopftuchverbote beziehungsweise Verbote für religiöse Symbole im öffentlichen Dienst eingeführt: zum Beispiel Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Hessen, Niedersachen und Saarland. Begründet werden sie grundsätzlich mit der religiösen und weltanschaulichen Neutralitätspflicht des Staates. Diese Regelungen basieren zum Teil noch auf der ersten Kopftuchentscheidung des BVerfG von 2003, in der eine gesetzliche Grundlage für solche Regelungen, aber nicht zwingend das Kriterium der konkreten Gefahr verlangte.[4] Diese Landesregelungen beziehen sich wiederum teilweise nur auf den schulischen Bereich, teilweise auf die Justiz und teilweise auf alle öffentlichen Bediensteten.

Schließlich weisen diese Regelungen – zum Beispiel in § 38 Schulgesetz Baden-Württemberg – Ausnahmen für christlich-abendländische religiöse Symbole oder Kleidungsstücke auf, da sie davon ausgehen, dass die europäische und deutsche Rechts- und Verfassungsordnung historisch wie inhaltlich durch die christliche Kultur geprägt ist. Dies geht zurück auf eine schon 1975 durch das BVerfG vorgenommenen Definition des Christlichen sowie der damit verbundenen und anerkannten Wertewelt des Grundgesetzes,[5] nach der das Gericht die unverfügbare und unantastbare Menschenwürde (Art. 1 GG), die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 GG), die Gleichheit aller Menschen und Geschlechter (Art. 3 GG) und die Religionsfreiheit, einschließlich der negativen Glaubensfreiheit (Art. 4 GG), als Inhalt genannt hat. Weiter umfasst der Begriff des Christlichen nach dem BVerfG insbesondere humane Werte wie Hilfsbereitschaft, Sorge für und allgemeine Rücksichtnahme auf den Nächsten sowie Solidarität mit den Schwächeren. Dies führte zu den Gedanken, nach dem das Grundgesetz in seiner eindeutigen Wertekanonisierung einen besonderen Bezug auf die christlich-abendländische Kultur und ihre Werte besitzt.

Es herrscht also innerhalb der Länder eine heterogene Gesetzeslage, die mit der jeweiligen kulturstaatlichen Eigenständigkeit und Länderkompetenz zur Regulierung zu begründen ist und die auf recht unterschiedliche Aussagen in den jeweiligen Landesverfassungen zum Christentum gestützt sind. In einzelnen Landesverfassungen oder Landesschulgesetzen wird explizit für die schulische Bildung die Berücksichtigung christlicher, abendländischer und humanistischer Werte zugrunde gelegt. So wird in den Landesverfassungen von Baden-Württemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen zu einem christlich-abendländischen Erziehungsauftrag aufgerufen, ähnlich wie in der Landesverfassung von Bremen formuliert ist.[6]
In Rheinland-Pfalz instituiert Art. 29 LVerf RP, dass öffentliche Schulen christliche Gemeinschaftsschulen sind; auch im Saarland werden nach Art. 29 christliche Bildungswerte angestrebt.[7] Vergleichbare Vorgaben finden sich in den Schulgesetzen von Schleswig-Holstein[8] und Thüringen.[9] Das Berliner Schulgesetz enthält in § 1 den Auftrag der Schule, Persönlichkeiten heranzubilden, deren Haltung gemäß Abs. 3 unter anderem durch die Anerkennung der Gleichberechtigung aller Menschen bestimmt wird. Und weiter: „Dabei sollen die Antike, das Christentum, sowie weitere Weltreligionen und Weltanschauungen und die für die Entwicklung zum Humanismus, zur Freiheit und zur Demokratie wesentlichen gesellschaftlichen Bewegungen ihren Platz finden“ (§ 1 Abs. 4 SchulG BE).

Entgegengesetzte Rechtsprechung des EuGH

Neben dieser innerdeutschen gesetzgebungspolitischen Heterogenität tritt eine europarechtliche Differenzierung, die durch die Judikatur des EuGH geschaffen worden ist. Das BAG hatte es abgelehnt, mit einem Vorlagebeschluss gemäß Art. 267 AEUV den EuGH anzurufen. Gerade der EuGH vertritt aber bei Verboten von Arbeitgebern, am Arbeitsplatz ein religiös konnotiertes Kopftuch zu tragen, eine andere Grundrechtsauslegung als das BVerfG. Der EuGH betont die geschützte Freiheit des Unternehmers, die Beschäftigten anzuweisen, das Kopftuch abzunehmen. Dies hängt mit der EU-Grundrechtecharta zusammen, die die unternehmerische Freiheit in Art. 16 ausdrücklich gewährleistet. Daher schützt der EuGH diese wirtschaftlichen Grundfreiheiten in seiner Judikatur. Der EuGH fokussiert das Kopftuchverbot zudem als gleichheitsrechtliche Rechtsfrage, während das BVerfG die Religionsfreiheit der Arbeitnehmerinnen grundrechtsdogmatisch zentriert. Dies ist zuletzt bei dem EuGH-Urteil in der Rechtssache „WABE und MH Müller Handel“[10] aus dem Jahr 2021 nochmals deutlich geworden.[11] Aus diesen Gründen wäre es im Blick auf die Homogenität der europäischen Rechtsordnung zumindest aufschlussreich gewesen, den EuGH mit dieser Frage zu befassen.

Denn es handelt sich bei dem zugrundeliegenden Rechtsstreit nicht um einen privaten Arbeitgeber, der sich – nach dem EuGH zu Recht – auf seine unternehmerische Freiheit berufen kann. Vielmehr handelt es sich aber um einen staatlichen Dienstherrn, der durch das verfassungsrechtliche Gebot der Neutralitätspflicht verpflichtet ist, dass der Staat den Bürgern gegenüber nicht religiös gebunden auftritt. Öffentlich Bediensteten steht die Freiheit der Religionsausübung zu, doch kann ihnen während der Dienstausübung eine gewisse Zurückhaltung auferlegt werden – so wie deren politische Betätigungen oder andere Grundrechtsausübungen (Streikrecht) rechtlich geregelt sind. Kann diese Bindung des Staates an die Neutralitätspflicht ebenso Geltung verlangen wie die unternehmerische Freiheit in der Judikatur des EuGH?

Ungeklärter Disput über religiös konnotierte Kleidungsstücke und Symbole

Neben diesen dogmatischen Fragen spiegelt sich in dem seit nunmehr über 25 Jahren andauernden Disput um ein Kopftuch oder andere religiös konnotierte Kleidungsstücke oder Symbole eine Grundsatzfrage im Spannungsfeld von Recht, Religion, tradierter Kultur und Politik: Kommt es auf den objektiven Empfängerhorizont (von Kindern in der Schule oder Erwachsenen bei einem Behördenbesuch) an? Kann die individuelle Intention der Person, die das Symbol oder Kleidungsstück trägt, eine Rolle spielen? Ist ein Kopftuch als ein Zeichen für Rückständigkeit und Frauenunterdrückung zu verstehen? Oder stellt es für Frauen, die sich für das Kopftuch entscheiden, einen selbstbestimmten Akt und ein mögliches Emanzipationssymbol dar? Darf es zwischen einzelnen Religionen beziehungsweise Weltanschauungsgemeinschaften Differenzierungen geben? Kann ein Gesetz, dass gerade alle Religionen (und Weltanschauungsgemeinschaften) gleichbehandelt, rassistisch oder diskriminierend sein?[12] Welche Rolle spielt eine mögliche politische Konnotation eines Symbols? Ist das Kopftuch ein Symbol der Unterdrückung oder ein Symbol der Freiheit?

Fußnoten

Fußnoten
1 BVerfG, Beschl. v. 02.02.2023 – 1 BvR 1661/21
2 Das BAG hatte im August 2020 in einem Einzelfall über das Berliner Neutralitätsgesetz entschieden. Eine Muslimin bekam 5129 Euro Entschädigung wegen Diskriminierung zugesprochen, weil sie wegen ihres Kopftuches nicht in den Schuldienst des Landes Berlin eingestellt wurde (BAG, Urt. v. 27.8.2020 – 8 AZR 62/19).
3 BVerfGE 138, 296 ff.
4 BVerfGE 108, 282
5 BVerfG 41, 29 ff., 52
6 Art. 32 LVerf HB: „Die allgemeinbildenden Schulen sind Gemeinschaftsschulen mit bekenntnismäßig nicht gebundenem Unterricht in Biblischer Geschichte auf allgemein christlicher Grundlage“
27 LVerf SL: „…Schüler unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit bei gebührender Rücksichtnahme auf die Empfindungen andersdenkender Schüler auf der Grundlage christlicher Bildungs- und Kulturwerte unterrichtet und erzogen.“
7 27 LVerf SL: „…Schüler unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit bei gebührender Rücksichtnahme auf die Empfindungen andersdenkender Schüler auf der Grundlage christlicher Bildungs- und Kulturwerte unterrichtet und erzogen.“
8 § 4 Abs. 2 SchulG SH: „Der Bildungsauftrag der Schule ist ausgerichtet an den im Grundgesetz verankerten Menschenrechten, den sie begründenden christlichen und humanistischen Wertvorstellungen und an den Ideen der demokratischen, sozialen und liberalen Freiheitsbewegungen“
9 § 2 Abs. 1 SchulG TH: „Dabei werden die Schuler darauf vorbereitet, Aufgaben in Familie Gesellschaft und Staat zu übernehmen und dazu angehalten, sich im Geiste des Humanismus und der christlichen Nächstenliebe für die Mitmenschen.“
10 EuGH, Urt. v. 15.07.2021 – C-804/18, C-341/19; vgl. auch: EuGH, Urteil vom 13. Oktober 2022 – C-344/20
11 Klengel, JurisPR-ArbR 2/2023 Anm. 4; Hoppe/Groffy, ArbR 2019, 211
12 Eine „Expertenkommission antimuslimischer Rassismus“ des Berliner Senates empfiehlt dem Senat die Abschaffung des Neutralitätsgesetzes. Die Mehrheit der Mitglieder der Kommission bewerten das Gesetz als „systematische und institutionalisierte Diskriminierung gegenüber Frauen mit Kopftuch ohne sachliche Rechtfertigung“. Nach Angaben des Gremiums sei die „noch unterentwickelte Wahrnehmung von antimuslimischem Rassismus durch staatliche Stellen“ in Berlin „bemerkenswert“ (https://www.berlin.de/sen/justva/presse/pressemitteilungen/2022/pressemitteilung.1240813.php)

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