Loyalitätspflichten in politischer Diskussion und auf dem gerichtlichen Prüfstand

06. 07. 2022

Aktuell sind zwei Verfahren beim BAG anhängig, in denen es um den Kirchenaustritt als Kündigungsgrund geht: Zum einen eine Hebamme und zum anderen eine Beraterin in der Schwangerschaftskonfliktberatung. Mit dem BVerfG und dem EuGH kommen nun weitere Entwicklungen mit ins Spiel. Der Kirchenaustritt wird damit zum Lackmustest der Reichweite kirchlicher Loyalitätspflichten.

Eine bekannte Kontroverse mit neuen Facetten

Aktuell sind zwei Verfahren beim BAG anhängig, in denen es um den Kirchenaustritt als Kündigungsgrund geht: Einmal eine Hebamme, einmal eine Beraterin in der Schwangerschaftskonfliktberatung; die Hebamme wurde ordentlich während der Probezeit gekündigt, die Mitarbeiterin der Schwangerschaftskonfliktberatung außerordentlich gekündigt, hilfsweise ordentlich.[1] Die ältere Rechtsprechung des BAG hatte ähnliche Fälle noch ausdrücklich gebilligt[2] – aber nun kamen das BVerfG und der EuGH, und haben die Karten neu gemischt. Der Kirchenaustritt wird damit zum Lackmustest der Reichweite kirchlicher Loyalitätspflichten, die aktuell ja auch in der politischen Diskussion sind.[3] Wenn eine Reaktion hierauf künftig nicht mehr möglich sein sollte, dann wäre eine Reaktion auf andere Verstöße gegen Loyalitätsobliegenheiten wohl nicht mehr denkbar.

Zu Recht geht das LAG Hessen davon aus, dass seine Entscheidung dem „bisherigem deutschen Verfassungsverständnis nicht entspricht“.[4] Das Landesarbeitsgericht sieht sich jedoch – anders als das LAG Hamm – fälschlich durch die Rechtsprechung des EuGH zu einer Abkehr von diesem Verfassungsverständnis berechtigt und verpflichtet. Auch nach der Rechtsprechung des EuGH erscheint die Kündigung jedoch gerechtfertigt. Dies schon deshalb, weil keine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion vorliegt, sie zumindest nach den Maßstäben, die der EuGH in der Rechtsprechung Egenberger[5] und IR[6] aufgestellt hat, als unmittelbare, erst recht als mittelbare Diskriminierung gerechtfertigt wäre.

Kündigung wegen Kirchenaustritt als mittelbare, nicht unmittelbare Benachteiligung wegen der Religion

Den Mitarbeiterinnen wurde gekündigt, weil sie aus der Kirche ausgetreten sind. Der Kirchenausstritt führt nach kirchlichem Verständnis – je nach Motiv – zu Apostasie, Häresie oder Schisma. Dem Protestanten – auf die sich das Landesarbeitsgericht Hessen vergleichend bezieht – ist ein Austritt aus der Katholischen Kirche nicht möglich. Wenn aber nun an etwas angeknüpft wird, was nur dem Katholiken möglich ist, nicht aber dem Protestanten oder dem Ungetauften, dann ist eben nicht die Religion der Anknüpfungspunkt, sondern das Verhalten, das zur Distanzierung führt. Denn die Religion selber ist nicht Grund. Dies unterscheidet den Fall von dem der Wiederverheiratung (Rs. IR) oder der fehlenden Kirchenzugehörigkeit (Rs. Egenberger). In dem einen Fall wird an etwas angeknüpft, was auch dem Ungetauften möglich ist (zivilrechtliche Wiederheirat nach Scheidung), in dem anderen direkt an die Religion. Der vorliegende Fall knüpft aber nicht an die Religion an, sondern an ein bestimmtes Verhalten, was nur Katholiken möglich ist. Es ist damit vergleichbar etwa des Tragens eines islamischen Kopftuchs (das nur Muslima trifft, deshalb aber weder eine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion noch des Geschlechts darstellt). Der EuGH hat dies zu Recht als bloße mittelbare Diskriminierung eingeordnet. Er äußert sich in seiner Entscheidung vom 14.3.2017 zum Verbot eines belgischen Unternehmens, am Arbeitsplatz sichtbare Zeichen der politischen, philosophischen oder religiösen Überzeugung zu tragen. Der EuGH kommt zu dem Schluss, dass das Verbot, ein islamisches Kopftuch zu tragen, das sich aus einer internen Regel eines privaten Unternehmens ergibt, die das sichtbare Tragen jedes politischen, philosophischen oder religiösen Zeichens am Arbeitsplatz verbietet, keine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder Weltanschauung im Sinne des Art. 2 Abs. 2 lit. a der Richtlinie 2000/78/EG darstellt.[7]

Der Sachverhalt ist strukturell vergleichbar mit der Weigerung, keine Stasi-Mitarbeiter einzustellen, was Personen, die nach der Wiedervereinigung geboren oder berufstätig wurden, nicht erfassen kann. Es handelt sich hierbei trotz dieser notwendigen Verknüpfung mit einem Mindestalter nur um eine mittelbare Altersdiskriminierung, sicherlich nicht um eine unmittelbare Diskriminierung. Denn auch außerhalb des religiösen Kontexts ist das anerkannt: In der Rs. Szpital Kliniczny[8] zahlte ein Arbeitgeber lediglich an die Arbeitnehmer mit Behinderung einen Zuschlag zum Arbeitsentgelt, die nach einem bestimmten Stichtag ihre Bescheinigung der Anerkennung einer Behinderung vorgelegt hatten. Andere sollten leer ausgehen, auch die Arbeitnehmer mit Behinderung, die diese Bescheinigung bereits vor dem besagten Stichtag eingereicht hatten, nicht in den Genuss der Zahlung des Zuschlags. Für eine unmittelbare Diskriminierung im Sinne des Art. 2 Abs. 1 und 2 lit. a der Richtlinie 2000/78/EG fehle hier die unmittelbare Anknüpfung an ein verbotenes Merkmal, da bei einer Ungleichbehandlung einzelner Subgruppen beide Vergleichsgruppen anhand desselben diskriminierungsrechtlich relevanten Merkmals gemessen werden und sich die Differenzierung zwischen den Vergleichsgruppen vielmehr an einem nicht in Art. 1 der Richtlinie 2000/78/EG normierten Merkmal vollzieht.[9] Genauso ist es hier: Entscheidend ist das Merkmal Kirchenaustritt = massiver Loyalitätsbruch, nicht aber die Religion.

Beide Landesarbeitsgerichte knüpfen also an den falschen Rechtfertigungsmaßstab an – § 9 AGG und damit den der unmittelbaren Diskriminierung.[10] Weil vorliegend also nur eine mittelbare Anknüpfung an die Religion erfolgt, wäre dies nur dann eine ungerechtfertigte mittelbare Diskriminierung, wenn sie nicht „durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich“ ist (Art. 2 Abs. 2 lit a der Richtlinie 2000/78/EG, § 3 Abs. 2 AGG). Ein solches rechtmäßiges Ziel bildet aber zweifellos die Wahrung des katholisch-kirchlichen Charakters der Einrichtung. Hierfür ist die Kündigung nicht nur erforderlich, sondern eben auch angemessen.  Die bischöflichen Erläuterungen des neuen Entwurfs der Grundordnung führen dies plastisch aus (und machen auch deutlich, warum eben die fehlende Taufe nicht gleichzusetzen ist mit dem Austritt aus der Kirche).[11] Die Rechtsfertigungsschwelle ist also deutlich niedriger als bei der unmittelbaren Diskriminierung. Bei der mittelbaren Diskriminierung zählt letztlich nur der sachliche Grund, der verhältnismäßig verfolgt wird. Dies aber wäre für Hebamme und Schwangerschaftskonfliktberatung gleichermaßen gegeben: „Der Loyalitätsverstoß … wiegt nach dem Selbstverständnis der katholischen Kirche und der ihr zugehörigen Einrichtungen besonders schwer.“[12] Das ist mehr als ein sachlicher Grund.

Vorlage an EuGH wohl notwendig

All dies zeigt: Die Unsicherheit ist groß. Wollte das BAG tatsächlich die Kündigungen nicht durchgehen lassen, weil es hierin eine ungerechtfertigte unmittelbare Diskriminierung sieht, so müsste es nach der gegenläufigen Rechtsprechung im Falle des islamischen Kopftuchs dem EuGH die Frage nach der Abgrenzung unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung vorlegen. Wie unsicher die ist, zeigen auch jüngste Äußerungen im Schrifttum.[13] Unsicher ist auch die Gewichtung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts und der Vorgaben der GrO, wie schon die beiden gegenläufigen Entscheidungen der beiden Landesarbeitsgerichte deutlich machen. Das BVerfG[14] hat es nochmal jüngst zusammengefasst, wann die Pflicht besteht – und wann sogar eine Verletzung des gesetzlichen Richters droht: Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union[15] muss ein nationales letztinstanzliches Gericht seiner Vorlagepflicht nachkommen, wenn sich in einem bei ihm schwebenden Verfahren eine Frage des Unionsrechts stellt, es sei denn, das Gericht hat festgestellt, dass die gestellte Frage nicht entscheidungserheblich ist, dass die betreffende unionsrechtliche Bestimmung bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war (acte éclairé) oder dass die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt (acte clair).[16] Davon darf das innerstaatliche Gericht aber nur ausgehen, wenn es überzeugt ist, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und für den Gerichtshof der Europäischen Union die gleiche Gewissheit bestünde. Nur dann darf das Gericht von einer Vorlage absehen und die Frage in eigener Verantwortung lösen.[17] Der Maßstab ist also denkbar streng. Nicht alles muss nach Luxemburg[18] – manches aber dann eben doch. Die deutschen Gerichte bleiben vorlagefreudig und das ist gut so, weil es in den meisten Fällen der größeren Rechtssicherheit dient.[19] Zudem: Eine neue Vorlage könnte dann vielleicht auch den etwas verfahrenen Konflikt zwischen BVerfG und EuGH in dieser Frage entschärfen. Warten wir also ab.

 

Fußnoten

Fußnoten
1 LAG Hessen, Urt. v. 1.3.2022 – 8 Sa 1092/20, n.v. (hier zur Vorinstanz Thüsing/Völkerding, ZAT 2020, 135-140); LAG Hamm, Urt. v. 24.9.2020 – 18 Sa 210/20, ArbRAktuell 2021, 223.
2 BAG, Urt. v. 25.4.2013 – 2 AZR 579/12, NZA 2013, 1131.
3 „Gemeinsam mit den Kirchen prüfen wir, inwiefern das kirchliche Arbeitsrecht dem staatlichen Arbeitsrecht angeglichen werden kann. Verkündungsnahe Tätigkeiten bleiben ausgenommen.“ (Koalitionsvertrag 2021 – 2025, Mehr Fortschritt wagen, S. 71.); zum Vorhaben des Koalitionsvertrags Thüsing, jm 2022. 54, 59.
4 LAG Hessen, Urt. v. 1.3.2022 – 8 Sa 1092/20, n.v.
5 EuGH, Urt. v. 17.4.2018 – C-414/16, NZA 2018, 569 Rn. 59 (Vera Egenberger / Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung eV).
6 EuGH, Urt. v. 11.9.2018 – C-68/17, NJW 2018, 3086 Rn. 55 (IR/JQ).
7 EuGH, Urt. v. 14.3.2017 – C-157/15, NJW 2017, 1087 (Samira Achbita gegen G4S Secure Solutions NV); bestätigt in EuGH, Urt. v. 15.7.2021 – C-804/18, NJW 2021, 2715 (IX/WABE eV und MH Müller Handels GmbH/MJ).
8 EuGH v. 26.1.2021 – C-16/19, NZA 2021, 267.
9 Kritisch und lesenswert Klus, EuZA 2022, 73.
10 Urt. v. 24.9.2020 – 18 Sa 210/20, BeckRS 2020, 43367 ; LAG Hessen, Urt. v. 1.3.2022 – 8 Sa 1092/20, n.v.
11 Abrufbar unter https://www.dbk.de/presse/aktuelles/meldung/entwurf-zur-grundordnung-des-kirchlichen-dienstes-geht-in-naechste-phase (letzter Abruf v. 13.6.2022).
12 BAG v. 25.4.2013 – 2 AZR 579/12, NJW 2014, 104 Rn. 29 zum Kirchenaustritt.
13 Wank, NZA 2022, 320; s. auch Thüsing, Gedenkschrift Robert Rebhahn, 2019, S. 611 ff.
14 BVerfG, Beschl. v. 14.1.2021 – 1 BvR 2853/19, NJW 2021, 1005; s. auch Thüsing/Pötters/Traut, NZA 2010, 930.
15 EuGH, Urt. v. 6.10.1982 – C-283/81, AP EWG-Vertrag Art. 177 Nr. 11 Rn. 21 (C.I.L.F.I.T.); EuGH. Urt. v. 15.9.2005 – C-495/03, BeckRS 2005, 70697 Rn. 33; EuGH, Urt. v. 6.12.2005 – C-461/03, BeckRS 2005, 70935, Rn. 16; stRspr.
16 Vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 31.5.1990 – 2 BvL 12, 13/ 88, 2 BvR 1436/87, BVerfGE 82, 159, 193; BVerfG, Beschl. v. 25.1.2011 – 1 BvR 1741/09, BVerfGE 128, 157, 187; BVerfG, Beschl. v. 19.7.2011 – 1 BvR 1916/09, BVerfGE 129, 78, 105 f.; BVerfG, BEschl. v. 15.12.2015 – 2 BvR 2735/14, BVerfGE 140, 317, 376 Rn. 125; BVerfG, Beschl. v. 19.12.2017 – 2 BvR 424/17, BVerfGE 147, 364, 378 f. Rn. 37.
17 EuGH, Urt. v. 6.10.1982 – C-283/81, AP EWG-Vertrag Art. 177 Nr. 11 Rn. 16 (C.I.L.F.I.T.).
18 Thüsing, BB Editorial, Heft 35/2005.
19 S. Auch Gallner, FS 40 Jahre LAG Köln, S. 41 ff.

Kommentare

  • Silvia Kortmann
    Verfasst am 05.03.2023 um 00:30 Uhr Antworten

    Bei allen juristischen Spitzfindigkeiten: Es besteht ein relevanter Unterschied zwischen dem Übergriff auf die private Lebensführung der Mitarbeiter durch die Kirchen und der Anweisung, bei der Arbeit, also temporär, auf den Hijab und damit auf die Demonstration für den eigenen Glauben zu verzichten. Während das eine die Pflicht zum christlichen Glauben darstellt, schränkt das andere die Bekenntnisfreiheit nicht ein.

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