Wie viel Raum lässt die säkulare Demokratie für religiöse Motive in der Politik?

10. 10. 2025

Bundestagspräsidentin Klöckner kritisierte im April, dass sich Kirchen zu oft in Tagespolitik einmischen würden. Kurz darauf entbrannte wegen ihrer Positionen zu Menschenwürde und Schwangerschaftsabbruch eine Debatte um Frauke Brosius-Gersdorf, die als Richterin für das Bundesverfassungsgericht nominiert worden war. Beide Diskurse laden ein, den Raum religiöser Motive in der säkularen Demokratie zu hinterfragen.

I. Einleitung 

Bundestagspräsidentin Julia Klöckner kritisierte in einem Interview mit dem Domradio im April 2025, dass sich die Kirchen zu häufig zur Tagespolitik äußerten und sich wie eine weitere NGO verhielten.[1] Die Äußerung löste Empörung in kirchlichen Kreisen und Teilen der Politik aus. Nur wenige Wochen später kam es in Deutschland zu einer intensiven Auseinandersetzung um die Nominierung von Frauke Brosius-Gersdorf als Richterin des Bundesverfassungsgerichts. Anlass waren ihre Positionen zu Menschenwürde und Schwangerschaftsabbruch. Kritik wurde insbesondere aus dem konservativ-katholischen Milieu geäußert; Gegenkritik forderte, dass sich religiöse Kräfte aus den Nominierungen für ein säkulares Gericht herauszuhalten haben. 

Beide Debatten geben Anlass, einen Schritt zurückzutreten und ganz generell nach dem Raum für religiöse Motive – als Beweggründe wie als Sujet verstanden – in der säkularen Demokratie zu fragen. 

II. Dynamiken in der religionspolitischen Ordnung 

In der Bundesrepublik schien das Verhältnis von Religion und Politik lange Zeit geklärt, indem dem Grundgesetz ein Modell wohlwollend-freundlicher Kooperation von Staat und Kirche entnommen wurde. Prägnanten Ausdruck fand die unterliegende politische Theorie im Böckenförde-Diktum: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“[2]

Doch Verfassungsrecht ist mehr als der geschriebene Verfassungstext. Es emergiert immer wieder neu aus veränderten Kontexten: Die Bedeutung von Normen wird, selbst wenn diese textlich unverändert fortgelten, kontextabhängig verschoben: Es bilden sich neue Strategien zur Bewältigung von systematischen Normkonflikten oder dogmatische Neujustierungen aus, auch motiviert durch veränderte ideenpolitische Kontexte, durch einen Wandel in der politischen Ökonomie, durch neue Akzente in gesellschaftlichen Wertkonflikten oder durch neue Akzente bei den Lebensformen- und Lebensmodellen. Das Grundgesetz ist in dem Sinne eine recht dynamische Verfassungsordnung. Das gilt in der Langzeitbeobachtung über 75 Jahre auch für Normbereiche, die nicht ausdrücklich verändert wurden, etwa für die Verhältnisbestimmung von Recht, Politik, organisierter Religion und Religionskulturen.

So dominierte in den Deutungen des Staatskirchenrechts zunächst die Koordinationslehre, die Idee einer Gleichordnung von Staat und Kirchen. Das christliche Naturrecht erfuhr nach 1945 eine Renaissance. Als Naturrechtssurrogat fungierte später die Deutung der Verfassung als Werteordnung; den Kirchen wurde die Funktion einer Art Bundesagentur zur Wertpflege angesonnen. Überlagert und ergänzt wurde diese Deutung durch Vorstellungen von Verfassungspatriotismus, der durchaus zivilreligiöse Züge annehmen konnte. In den späten 1990er Jahren setzten sich Dogmatiken und Theorien durch, die einer Vergrundrechtlichung des Staatskirchenrechts als Reflex von kulturellen Prozessen der Singularisierung, Hyperdiversifizierung und Säkularisierung das Wort reden.

Derweil ist das vielgelobte, als bewährt gepriesene Modell wohlwollend-freundlicher Kooperation unter erheblichem Druck geraten: wegen eines dramatischen Schwundes an volkskirchlicher Substanz, wegen des Vertrauensverlustes infolge des Umgangs mit Missbrauchsskandalen in der Kirche, wegen Verschiebungen in der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Religion: Diese erscheint vielen nicht mehr als Garant sozialer Kohäsion, sondern (auch) als Gefahr. Das äußert sich in massiven Vorbehalten in der Bevölkerung gegenüber – juristisch oft wohlbegründeten – Gleichstellungsansprüchen islamischer Akteure, schlägt aber auch auf kirchliche Binnenkonflikte durch, so wenn aus den Reihen des katholischen Verbandskatholizismus die Kirche gleichsam als Verfassungsfeind gebrandmarkt wird, etwa wegen des Umgangs mit Menschen, die sich dem LGBTQIA+-Spektrum zugehörig sehen, oder weil Weiheämter nur Männern offenstehen.

III. Kontroversen um die religiös-weltanschauliche Neutralität

Im Horizont dieser Entwicklungen und Dynamiken bewegt sich auch die Frage nach dem „Raum für religiöse Motive in der säkularen Demokratie“. Die Debatten kristallisieren sich insbesondere im Verständnis der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates. 

1. Rechtsprechung in der Suchbewegung

Die Rechtsprechung zu dieser Neutralität ist von einer anhaltenden Suchbewegung geprägt. Lange Zeit war der Neutralitätstopos von untergeordneter Bedeutung in der Karlsruher Rechtsprechung zum Staatskirchenrecht. Inzwischen gilt „Neutralität“ als ein Zentralbegriff des Religionsverfassungsrechts. Dabei zeichnet sich das Konzept in der Rechtsprechung durch erhebliche Elastizität aus, wenn man die unterschiedlichen Akzentsetzungen in den Entscheidungen zum Kruzifix in der Schule[3] und zu religiöser Kleidung im Schul- und Justizdienst[4] vergleicht. 

2. Konkurrierende Deutungen in der Rechtswissenschaft und politischen Philosophie

Das Bedeutungsspektrum erweitert sich noch einmal erheblich, wenn man die Debatten in der Rechtswissenschaft und in der politischen Philosophie mit einbezieht: 

  • Horst Dreier etwa plädiert für eine Verobjektivierung der Neutralität, also eine Loslösung des Prinzips von grundrechtlichen Verankerungen. Neutralität wird so zu einer Art Supernorm, die droht, konkrete Grundrechte zu überlagern und zu verdrängen.[5]
  • Jürgen Habermas verlangt, bei aller Wertschätzung für religiöse Impulse zu normativen Diskursen, für demokratische Entscheidungen eine Verallgemeinerungsfähigkeit von Gründen: Religiöse Motive und Normative müssten in eine säkulare Sprache und Logik übersetzt werden. Er geht so weit, dass Parlamentsprotokolle „zensiert“ werden sollen, wenn Abgeordnete sich religiöser Motive zur Begründung ihrer Entscheidungen bemächtigen.[6]
  • Daneben findet sich aber auch aus demokratietheoretischer Perspektive formulierte Kritik am Neutralitätsparadigma: Über das Ausmaß religiöser Prägungen der Rechtsordnung werde – in den von den Grundrechten gesetzten Grenzen – demokratisch entschieden, so Christoph Möllers. Für eine Grundrechtsgehalte überschießende „Neutralität“ bestehe kein Bedarf.[7]
  • Konträr dazu steht das Konzept der Begründungsneutralität von Stefan Huster: Rechtsregeln müssten nicht wirkungsneutral sein, dürften aber unter keinen Umständen auf religiösen Überzeugungen gründen.[8]

Die Ansätze wie die von Habermas und Huster führen zu der Frage, inwieweit der Gesetzgeber überhaupt Gründe für sein Handeln schuldet. Wieso haben „Motive“ für politische Entscheidungen verfassungsrechtliche Bedeutung? Habermas argumentiert aus der Position einer deliberativen Demokratietheorie. Doch die darf man dem Grundgesetz nicht einfach unterstellen: Nach den die Demokratie ausgestaltenden Normen bedingt demokratische Legitimation nicht Vernünftigkeit und potentielle Zustimmung durch alle Betroffenen. Die Demokratie des Grundgesetzes lässt auch Raum für politischen Willen und politische Interessen.

IV. Raum für religiöse Motive in der Politik aus verfassungsrechtlicher Sicht

Die Frage nach dem verfassungsrechtlichen Raum für religiöse Motive in der Politik wird man deshalb differenziert beantworten müssen:

1. Gründe für Grundrechtseingriffe 

Der Grundrechtsschutz durch das rechtsstaatliche Verhältnismäßigkeitsgebot setzt die Begründbarkeit für Grundrechtseingriffe voraus. Solche Eingriffsgründe sind aber nicht umstandslos gleichzusetzen mit Motiven einzelner politischer Akteure im Gesetzgebungsverfahren. Vielmehr wird man weitergehend abschichten müssen:

2. Säkularität öffentlicher Gewalt

Demokratie bildet insoweit eine Grenze für religiöse Motive und Topoi bei kollektiv bindenden Entscheidungen, als sie, ausgehend von der Volkssouveränität, zugleich die Säkularität öffentlicher Gewalt begründet. Die Demokratie des Grundgesetzes kennt nur einen, den demokratischen Legitimationsmodus. Dieses basale Säkularitätskonzeption lässt die nominatio dei in der Präambel unberührt (die ja gerade keine invocatio ist). Auch wenn Gott in der Verfassung erwähnt wird, ist der durch das Grundgesetz errichtete Staat im hier aufgezeigten Sinne säkular.

3. Verbot der Staatskirche: Wirkungen des Art. 140 GG/Art. 137 I WRV

Das religiös-weltanschauliche Neutralitätsgebot ruht auf der Religionsfreiheit und religiösen Diskriminierungsverboten, aber auch auf Art. 140 GG/137 Abs. 1 WRV, dem institutionellen Verflechtungsverbot und dem Verbot von Staatsreligion sowie Staatsweltanschauung. Diesen Aspekt vermisst man im demokratietheoretisch begründeten Einspruch gegen vorherrschende Neutralitätsvorstellungen. Das Verbot der Staatskirche weist eine institutionelle und ideelle Dimension auf: Die Kirche darf, von verfassungsrechtlichen Ausnahmen abgesehen, keine Staatsaufgaben, der Staat keine kirchlichen Aufgaben übernehmen. Dem Staat kommt keine theologische Kompetenz zu. In dem Sinne darf er sich nicht mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung identifizieren. Das schließt das Gebot einer neutralitätsgerechten Selbstdarstellung des Staates ein. Man kann bezweifeln, dass das berühmt-berüchtigte bayerische Behördenkreuz solchen Ansprüchen gerecht wird.

4. Religionsfreiheit und die Begründung gesetzlicher Verhaltenspflichten

Wie steht es aber um gesetzlich statuierte Verhaltenspflichten von Bürgern? Etwa das Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen? Die Regulierung geschäftsmäßigen assistierten Suizids? Oder staatlichen Positionierungen in religiösen Streitfragen wie dem Schächten oder dem Tragen eines Kopftuchs? 

Zur autoritativen Klärung von religiösen Streitfragen ist der säkulare Staat per se unzuständig. Der Neutralitätsgrundsatz trägt im Rahmen von Grundrechtsprüfungen zur rechtlichen Klärung über diese Einsicht hinaus wenig bei. Maßstab für die Verfassungsmäßigkeit sind letztlich aber die Grundrechte selbst, insbesondere Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. So wären mit staatlichem Zwang durchgesetzte, religiös begründete Speise- oder Bekleidungsregeln für jedermann offensichtlich verfassungswidrig, da es schon an einem legitimen Eingriffszweck, der Ausübung religiöser Autorität, mangelt. Umgekehrt gilt, dass Verbote bestimmter Speise- und Bekleidungsregeln säkular, genauer: mithilfe kollidierender Verfassungsrechtsgüter, begründbar sein und im Vergleich mit den geschützten religiösen Interessen als gewichtiger erweisen müssen. 

5. Hard case: Stille Feiertage

Ein anschauliches Konfliktfeld bilden die stillen Feiertage. Rücksichtnahme auf die religiöse Pietät gilt zu Recht als Tugend. Aber kann man die Tugend auch als allgemein verbindliche Rechtspflicht begründen? Art. 139 WRV rechtfertigt Verhaltensverbote als generelle Schutz- und Rücksichtnahmepflichten an Feiertagen, aber kein religiös begründetes Sonderrecht. Die Ausgestaltung im Detail ist eine Frage demokratischer Verständigung. Stufungen in Rücksichtnahmepflichten je nach religiösem Charakter des Feiertags sind nur zulässig, soweit das zur Zweckerreichung des Feiertagsschutzes notwendig ist. Der soll „seelische Erhebung“ ermöglichen, verpflichtet aber nicht dazu. Die Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen durch Art. 139 WRV ist durch dessen Zweckprogramm beschränkt. Der feiertagsgesetzliche Verbotskatalog für den Karfreitag sieht sich an einzelnen Stellen deshalb durchgreifender Zweifel ausgesetzt (etwa die Vorgabe in § 6 Abs. 3 Nr. 3 FeiertagsG NRW, dass nur Filme öffentlich vorgeführt werden dürfen, „die vom Kultusminister […] als zur Aufführung am Karfreitag geeignet anerkannt sind“). Bei der Norm geht es weniger um die kollektiven Bedingungen der Möglichkeit seelischer Erhebung einzelner als um die repressive Durchsetzung von partikularen Pietätsidealen. 

6. Grenzen der Religionskritik – wehrhafte Demokratie

Die Demokratie lässt viel Raum für Religionskritik, für antireligiöse Motive in der Politik. Für sie gelten die gleichen Grundsätze, wie für religiöse Motive, aber auch die gleichen Grenzen. Im Rahmen der öffentlichen Meinungsbildung können die Bürger und ihre Organisationen einander viel zumuten. Besonders brisant wird es aber dann, wenn Mitbürgern die Menschenwürde abgesprochen wird. Ein Beispiel: Islamophobie bildet ein typisches Merkmal rechtspopulistischer Identitätspolitik. Wenn Islamkritik so weit geht, den gleichberechtigten Staatsbürgerstatus von Muslimen wegen ihrer Religionszugehörigkeit infrage zu stellen, kommt hierin eine verfassungsfeindliche Haltung zum Ausdruck, die das Instrumentarium der wehrhaften Demokratie aktiviert.

7. Religiöse Motive politischer Akteure: das Beispiel einer gescheiterten Nominierung einer Verfassungsrichterin

Wie sieht es aber nun mit religiösen Motiven für politisches Handeln einzelner Amtsträger aus, etwa für Wahlentscheidungen oder das Verhalten bei parlamentarischen Abstimmungen? Prominent wurde die Frage zuletzt aufgeworfen im Zusammenhang mit der Nominierung von Frauke Brosius-Gersdorf zur Richterin des Bundesverfassungsgerichts. Etliche Mitglieder des Bundestages störten sich an deren Position zum Schwangerschaftsabbruch. So begründete die Abgeordnete Elisabeth Winkelmeier-Becker ihren Widerstand gegen eine Wahl von Brosius-Gerdsdorf in der FAZ unter Berufung auf christliches Naturrecht: „Das naturrechtlich geprägte Verständnis der Menschenwürde gehört zur DNA der Unionsparteien.“[9]

Der Satz vermag parteien- und ideengeschichtlich durchaus zu irritieren. Er stimmt, wenn man an das Verfassungsrecht der frühen Bundesrepublik prägende Figuren wie Adolf Süsterhenn denkt.[10] Zugleich markierte die Gründung der Christlichen Union eine Zäsur mit der Zentrumspartei – und die politische Ethik des Protestantismus tut sich seit jeher schwer mit dem katholischen Naturrechtsdenken. Die Ablehnung der Naturrechtstradition gehört so gesehen auch zur DNA der Unionsparteien. 

Protestantische Vorbehalte formulierte in Reaktion auf Elisabeth Winkelmeier-Becker denn auch der evangelische Theologe Friedrich Wilhelm Graf, gleichfalls in der FAZ. Die Rede vom „christlichen Menschenbild“ sei eine „Fiktionsformel“, Naturrecht beruhe auf einem naturalistischen Fehlschluss.[11] Soweit muss man nicht gehen: Nicht jede politische Anthropologie ignoriert die kantische Unterscheidung von Sein und Sollen. Normative Setzungen können durch Beschreibungen typischen menschlichen Verhaltens plausibilisiert werden. Anthropologien bieten so gesehen „gute Gründe“ für die Ingeltungsetzung von Normen. 

8. Zur Rolle politischer (und religiös imprägnierter) Anthropologien

Man könnte weitergehend fragen, ob Politik überhaupt ohne anthropologische Hypothesen möglich ist. Viele Teilrechtsgebiete sind ohne Menschenbilder, ohne starke Annahmen über menschliches Verhalten und menschliche Dispositionen gar nicht zu verstehen: beispielsweise die Regelungen zur Strafzumessung und zum Strafvollzug oder zum Verbraucherschutz und zur Vertragsfreiheit. 

Ist dann die Berufung politischer Akteure auf eine religiös geprägte Anthropologie („christliches Menschenbild“) ein besonderes Problem, wie Graf insinuiert, gar durch Neutralitätsanforderungen gesperrt? Kohärent begründen lässt sich eine solche Position meines Erachtens nicht. Einen individuellen Mindestsäkularisierungsgrad für das Ergreifen der Politik als Beruf lässt sich dem Grundgesetz gewiss nicht entnehmen. 

Stimmt die Beobachtung, dass politische Entscheidungen immer auch von anthropologischen Annahmen geprägt sind, dann gilt auch für diese, dass über sie im politischen Wettbewerb entschieden wird. Mandatsträgern ist es nicht verwehrt, sich von Vorstellungen über die Heiligkeit des Lebens, über den Menschen als fehlbares Gemeinschaftswesen, über die imago dei in der Tradition der Renaissance, im Sinne einer schöpferischen Befähigung des Menschen, oder über Selbstsucht und Fehlbarkeit des Menschen („Sünde“) leiten zu lassen. Ebenso wenig verbietet das Grundgesetz Mandatsträgern religiös motivierten Antifatalismus, ein aus religiösen Hoffnungen gespeistes nichtdefätistisches Politikverständnis, das sich von reiner Sozialtechnologie abzusetzen sucht. Der demokratische Prozess ist offen für die Religionen und Weltanschauungen der zu Mandatsträgern werdenden Bürger. Eine Grenze setzen bei kollektiv bindenden Entscheidungen dann die Grundrechte und Art. 140 GG/Art. 137 Abs. 1 WRV. 

9. Öffentliche Theologie: Grundrechtsgeschützt als Teil öffentlicher Meinungsbildung

Religionsfreiheit umfasst auch, was in ethischer Tradition nach 1945 als „Öffentlichkeitsauftrag der Kirche“ bezeichnet wird. Augenfällig war zuletzt die widersprüchliche politische Instrumentalisierung kirchlicher Interventionen im Raum: Progressive Kräfte loben das Kirchenasyl, formulieren aber schärfste Kritik an katholischen Lehrpositionen zum Anfang und Ende des Lebens. Umgekehrt wurden aus den Reihen der Union mit Blick auf die Klima- und Migrationspolitik Mahnungen laut, die Kirche dürfe nicht zum politischen Akteur werden. In der Causa Brosius-Gersdorf wurden dann aber kritische Stimmen aus der Kirche dankbar aufgenommen und verstärkt. 

Nun weiß das Verfassungsrecht zu Inkohärenzen und Bigotterie in Verlautbarungen öffentlicher Theologie wie auch in den politischen Reaktionen auf diese wenig zu sagen. Strategische politische Kommunikation ist freiheitlich geschützt bis zur Grenze von bestimmten Formen von Hassrede. „Sanktionierungen“ erfolgen durch öffentliche Meinungsbildung und Wahlen. 

V. Conclusio

Verfassungsrecht sichert individuelle Freiheit und demokratische Legitimation, nicht aber politische Klugheit. Was kluge Politik ist, entscheiden Wähler. Und welche Rolle religiöse Motive dabei spielen, ebenso.

Dieses Manuskript entstand für einen Impulsvortrag auf der Tagung „Die Verhältnisse von Religion und Politik“, veranstaltet von der Konrad-Adenauer-Stiftung, vom 24. bis 26. September 2025.

Fußnoten

Fußnoten
1 Moritz Mayer (2025): „Nicht immer sinnvoll, eine weitere NGO zu sein“ domradio.de am 08.04.2025, unter: https://www.domradio.de/artikel/bundestagspraesidentin-kloeckner-wuenscht-sich-starke-kirchliche-stimme (abgerufen am 28.09.2025).
2 Ernst-Wolfgang Böckenförde (1991): Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, S. 92 (112).
3 BVerfGE 93, 1 ff.
4 BVerfGE 108, 282 ff.; 138, 296 ff.; 153, 1 ff.
5 Horst Dreier (2018): Staat ohne Gott, 2. durchgesehene Auflage, S. 95 ff.
6 Jürgen Habermas (2005): Zwischen Naturalismus und Religion, S. 119.
7 Christoph Möllers (2014): Grenzen der Ausdifferenzierung, in: ZevKR 59 (2014), S. 115 ff.
8 Stefan Huster (2002): Die ethische Neutralität des Staates.
9 Elisabeth Winkelmeier-Becker (2025): Warum wir Brosius-Gersdorf ablehnen, faz.net am 17.06.2025, unter: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/cdu-abgeordnete-brosius-gersdorf-hat-ein-anderes-menschenbild-110594737.html (abgerufen am 28.09.2025).
10 Siehe etwa Christoph von Hehl (o. D.): Profil Adolf Süsterhenn, kas.de unter: https://www.kas.de/de/web/geschichte-der-cdu/personen/biogramm-detail/-/content/adolf-suesterhenn-v1 (abgerufen am 28.09.2025).
11 Friedrich Wilhelm Graf (2025): Das Grundgesetz ist nicht von Gott gesetzt, faz.net am 05.08.2025, unter: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/der-fall-brosius-gersdorf-offenbart-moralische-ueberheblichkeit-von-politikern-110620462.html (abgerufen am 28.09.2025).

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