Religion als ordentliches Lehrfach in Berlin – Chance für eine moderne Religionspolitik?

07. 06. 2023

Die neue Koalition in Berlin überraschte mit der Absicht, Religion als ordentliches Lehrfach in den regulären Schulunterricht einzuführen. Im religiös und weltanschaulich vielfältigen Berlin bietet eine Verstärkung religiöser Bildung eine Grundlage für eine Religionspolitik, die religiösen und weltanschaulichen Strömungen Entfaltungsmöglichkeiten schafft und auf Zusammenhalt und Respekt zielt.

„Die Koalition strebt die Einführung eines Wahlpflichtfachs Weltanschauungen/Religionen als ordentliches Lehrfach an.“ Dieser Satz des Berliner Koalitionsvertrages von CDU und SPD vom April 2023 überraschte.[1] Zwar hatte die CDU im Wahlkampf eine entsprechende Forderung aufgestellt, aber nachdem 2009 das Volksbegehren „Pro Reli“ zur Einführung eines Wahlpflichtfachs Religion gescheitert war, schien das Thema für viele Jahre erledigt zu sein. Das geht auf die besondere Situation im Land Berlin zurück, in dem die Bedingungen für den Religionsunterricht von denen in fast allen anderen Bundesländern abweichen. Während nach Artikel 7 Absatz 3 GG Religion als ordentliches Lehrfach unterrichtet wird und damit verpflichtend ist, fällt Berlin unter die sogenannte Bremer Klausel. Sie bestimmt in Artikel 141 GG, dass in Ländern, in denen vor dem 1. Januar 1949 eine andere Regelung zum Religionsunterricht bestand, diese fortbesteht. Das trifft für Berlin zu. Das Schulgesetz vom 26. Juni 1948 sieht vor, dass Religionsunterricht Angelegenheit der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften ist und ein freiwilliges Unterrichtsangebot darstellt. Diese Praxis gilt bis heute und führt dazu, dass Kinder bzw. Eltern sich eigens anmelden müssen, die Benotung nicht in den allgemeinen Zeugnissen erscheint und der freiwillige Unterricht häufig in den Randstunden erteilt wird. Als im Schuljahr 2006/2007 das Fach Ethik für die Jahrgangsstufen 7 bis 10 als Pflichtfach eingeführt wurde, drohte der Religionsunterricht noch stärker in den Hintergrund zu treten. 

Bedeutung von Religion in einer weltanschaulich vielfältigen Stadt

Aus diesem Schattendasein soll der Religionsunterricht nun herausgeholt werden, weil gesehen wird, wie wichtig die Kenntnis und Erfahrung von Religion in einer Stadt ist, die viele Religionen beheimatet. Schätzungen des Senats gehen von rund 250 Religionsgemeinschaften aus. Auch wenn unter dieser Vielzahl der Religionen das Christentum traditionell und kulturell die größte Zahl der Menschen bindet, spielt es in der Gesellschaft schon länger nicht mehr die dominierende Rolle. Im Juni 2022 zählten 13,0 % der Einwohner Berlins zur Evangelischen Kirche, 7,5 % zur römisch-katholischen Kirche. 79,5 % gehörten keiner oder einer anderen Religionsgemeinschaft an. Dazu zählen weitere christliche Gemeinschaften wie orthodoxe Kirchen, freikirchliche Gemeinschaften, Anglikaner sowie vor allem Menschen muslimischen Glaubens verschiedener Ausrichtungen und Menschen jüdischen Glaubens. Darüber hinaus sind Hindus und Buddhisten in größerer Zahl vertreten. Die größte Gruppe aber bilden die Konfessionsfreien, die zu einem sehr geringen Teil im Humanistischen Verband zusammengeschlossen sind.

Beteiligung am Religionsunterricht bei 50 Prozent 

Nicht alle Religionsgemeinschaften beteiligen sich an der Möglichkeit, freiwilligen Religions- oder Weltanschauungsunterricht zu erteilen. Die Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland (fowid) hat in einem Rückblick der Jahre 2010 bis 2022 für den Religions- oder Weltanschauungsunterricht in Berlin ausgewiesen, dass im langfristigen Vergleich durchgehend etwa die Hälfte aller Schülerinnen und Schüler von diesem Angebot Gebrauch macht. Allerdings verringert sich über den Zeitraum der vergangenen zwölf Jahre der Anteil derer, die am evangelischen oder katholischen Religionsunterricht teilnehmen, gegenüber denen, die Lebenskundeunterricht des Humanistischen Verbandes erteilt bekommen. 2011 nahmen rund 80.000 Schülerinnen und Schüler am evangelischen Religionsunterricht teil, 2022 noch 73.000. Für den katholischen Unterricht wurden 2011 rund 25.000 Schülerinnen und Schüler gezählt, 2022 waren es 21.000. Islamischen Unterricht bekamen 2011 rund 4.800 Kinder und Jugendliche, 2022 waren es 5.500. Die Teilnahme am jüdischen Unterricht bewegt sich zwischen 900 und 1000 Kindern. Einzig der Lebenskundeunterricht des Humanistischen Verbandes konnte Zuwächse verzeichnen. Die Zahl stieg von rund 50.000 im Jahr 2011 auf 71.000 im Jahr 2022.[2] Sie liegt damit knapp unter der Teilnehmerzahl des evangelischen Unterrichts. Dieser veränderte Zuspruch spiegelt sich in den Anteilen der Unterrichtsangebote. Der evangelische Anteil sank im genannten Zeitraum von 25 % auf 19 %, der katholische von 8 % auf 6 %, nur der Lebenskundeunterricht stieg von 16 % auf 19 %. Die Autoren von fowid führen das auf eine fortschreitende Säkularisierung zurück.

Konfessionell-kooperativer Unterricht

Nicht zuletzt angesichts sinkender Schülerzahlen vereinbarten der evangelische Bischof Dröge und der katholische Erzbischof Koch bereits 2017 einen konfessionell-kooperativen Religionsunterricht für Berlin und Brandenburg. Er wird für konfessionell gemischte Gruppen entweder von einer evangelischen oder katholischen Lehrkraft erteilt. Ziel ist, die religiöse Bildung zu stärken, auch für Kinder ohne religiöse Bindungen, wie etwa an der Ikarus-Grundschule in Berlin-Mariendorf, wo er sich an die ganze Klasse richtet. Er soll ein Bewusstsein für konfessionelle und weltanschauliche Prägungen wecken und wechselseitige Verständigung ermöglichen. Ob dieses Ziel erreicht wird, ist nach bisherigen Erfahrungen nicht eindeutig. Zumindest aber stärkt er das Wissen des eigenen Bekenntnisses, das entscheidend ist, um vor allem im interreligiösen Dialog darstellen zu können, was die Bedeutung der eigenen Feste, Traditionen und Glaubensinhalte ist. Unbestritten ist die Einordnung von Bischof Dröge, dass „Religionsunterricht […] unter den Bedingungen der Institution Schule am Bildungsprozess der Kinder einen wesentlichen Beitrag leistet.“[3]

Fachkräftemangel auch beim Religionsunterricht

Schon 2017 war ein Argument für das Zusammengehen der Kirchen der Lehrermangel, ein Zustand, der sich in der Zwischenzeit nicht verbessert hat. Die im Koalitionsvertrag geforderten fachlich kompetenten Lehrkräfte wurden in Berlin lange nicht in ausreichender Zahl ausgebildet, auch weil man ihnen keine passenden Angebote machen konnte. An der Evangelisch-Theologischen Fakultät  der Humboldt-Universität haben 2022/23 46, im noch neuen katholischen Zentralinstitut 23 und in der  Islamischen Theologie 17 Personen das Studium mit dem Ziel Lehramt begonnen.[4] Ob sie alle in den Lehrberuf gehen, ist keineswegs sicher. Wie viele Lehrer aus anderen Bundesländern geworben oder weitergebildet werden können, ist offen. Damit der Unterricht umgesetzt werden kann, müssen Bildungsverwaltung und Kirchen daher schnell gemeinsam nach Lösungen suchen. Denn der Religionsunterricht ist „ein wichtiges Zeichen, dass Glaube und Bildung zusammengehören“, so Christian Stäblein, Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz.

Zeitgemäßer Unterricht von Religionen 

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage eines zeitgemäßen Angebots: Was kann und was soll Religionsunterricht leisten? In dem Maße, in dem sich die Bedeutung von Religion in der gesellschaftlichen Wahrnehmung ändert, müssen Ausprägungen gelebter Religiosität gesehen und erklärt werden. Denn Religion ist Privatsache nur, soweit es die persönliche Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Religion betrifft, darüber hinaus hat Religion öffentliche Relevanz und beeinflusst das Verhalten der Menschen. Sie kann Gemeinwesen gestalten, aber auch zerstörerisch wirken.

Ein erstes Ziel ist das Verständnis der eigenen Religion und Konfession. Deren Erfahrung befähigt, sich mit verschiedenen religiösen und weltanschaulichen Traditionen auseinanderzusetzen. Wer Gründe für die eigene religiöse Überzeugung nachvollziehen kann, kann sich besser in fremde religiöse Denkweisen und Perspektiven hineinversetzen.

Wenn es zweitens gelingt, mit fremden religiösen Überzeugungen respektvoll umzugehen und sie nebeneinander stehenzulassen, kann das den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern. Ein regulärer Schulunterricht gibt die „Möglichkeit in aller Freiheit“, sich mit anderen Überzeugungen auseinanderzusetzen, wie Bischof Stäblein formuliert. Dies betrifft auch Kinder aus religionsfernen Kontexten.

Drittens kann Religionsunterricht im allgemeinen Bildungsangebot der Schule Integration unterstützen, Vorurteile abbauen und zum Schulfrieden beitragen. Da die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften viertens zwar den Unterricht verantworten, die staatliche Schulaufsicht aber die Curricula einsieht und die Lehrer an staatlichen Universitäten ausgebildet werden, kann die Verbreitung radikaler, staats- oder gesellschaftsfeindlicher Inhalte verhindert werden.

An der Erarbeitung von Curricula, die diesen Ansprüchen genügen, sind möglichst viele am Religions- bzw. Weltanschauungsunterricht Beteiligte, einschließlich der Wissenschaft, einzubeziehen. Dabei kann auf Erfahrungen aus anderen Bundesländern zurückgegriffen werden.

Die offenen Fragen, einschließlich der Klärung des Inhalts der Wahlpflicht, müssen zügig bearbeitet werden, damit die Koalitionsvereinbarung in dieser Legislaturperiode umgesetzt werden kann.

In einer multireligiösen Stadt wie Berlin lässt sich nur mit religiös gebildeten Menschen eine Religionspolitik etablieren, die den verschiedenen Strömungen gerecht wird und allen, gleich welchen Hintergrundes und welcher Überzeugung eine Möglichkeit zur Entfaltung ihrer Persönlichkeit auch in religiösen Fragen gibt. Eine solche Religionspolitik unterstützt ein gelingendes Zusammenleben in einer pluralen, säkularen Umwelt und passt zu den Vereinbarungen des Koalitionsvertrages zur Prävention gegen Antisemitismus und Islamfeindlichkeit sowie zur Förderung von interreligiösen Projekten.

Ausblick: Es braucht einen langen Atem 

Es ist noch viel zu tun, um nach so langer Abstinenz von religiöser Bildung als ordentlichem Lehrfach pädagogisch wie fachlich guten Unterricht anzubieten und damit religiöse Sprachfähigkeit zu ermöglichen, einer Instrumentalisierung von Religion und der Gefahr von Gewaltanwendung entgegenzuwirken und den Weg zu einer modernen Religionspolitik zu ebnen. Das Ziel lohnt. In einer Stadt mit einer Vielzahl von religiösen Bindungen ist eine gute religiöse Bildung notwendig – nicht zuletzt mit Blick auf ein Neutralitätsgesetz, das Konflikten um Religion in der Schule durch Unsichtbarmachung begegnen will.

Fußnoten

Fußnoten
1 CDU und SPD (2023): Das Beste für Berlin, Koalitionsvertrag 2023 – 2026, S. 42.
2 Vgl. Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland (fowid) (2022): Berlin: Religions- und Weltanschauungsunterricht 2010-2022, unter: https://fowid.de/meldung/berlin-religions-und-weltanschauungsunterricht-2010-2022 (abgerufen am 05.06.2023). Diese Zahlen weichen von denen der Kultusministerkonferenz ab, vgl. dpa Deutsche Presse-Agentur (2019): Weniger Schüler im Religionsunterricht, Volksstimme am 11.09.2019, unter https://www.volksstimme.de/deutschland-und-welt/politik/weniger-schuler-im-religionsunterricht-1991381# (abgerufen am 05.06.2023). Orthodoxer Unterricht nur in Nordrhein-Westfalen und Hessen.
3 Vgl. von Laak, Claudia (2017): Evangelische und katholische Kirche kooperieren beim Unterricht, Deutschlandfunk am 06.10.2017, unter: https://www.deutschlandfunk.de/religion-an-der-schule-evangelische-und-katholische-kirche-100.html (abgerufen am 05.06.2023).
4 Vgl. Lassiwe, Benjamin (2023): Religion als Wahlpflichtfach, Tagesspiegel am 12.04.2023, unter: https://www.tagesspiegel.de/berlin/religion-als-wahlpflichtfach-fur-die-schwarz-roten-plane-in-berlin-fehlen-die-lehrer-9639452.html (abgerufen am 14.07.2023)

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